Zürich, 8. November 2021

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Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz, unterstützt vom Sigi und Evi Feigel-Fonds, haben heute mit der Verleihung des Nanny und Erich-Fischhofpreises zwei Menschen geehrt, die sich seit vielen Jahren gegen jegliche Art von Vorurteilen und Diskriminierung einsetzen.

Der erste Preisträger ist der Schriftsteller Lukas Bärfuss, welcher sich nicht nur in seinen Werken mit gesellschaftspolitischen Fragen auseinandersetzt, sondern sich auch bei aktuellen Debatten nicht davor scheut kontroverse Themen anzusprechen. Laudator Julian Schütt würdigte in seiner Rede Bärfuss’ Widerwille gegenüber der hierzulande «typisch fein säuberlichen Aufteilung von Kultur, Geschichte und Politik nach dem Trennkostprinzip». Stattdessen spreche der Autor historische und politische Zusammenhänge schonungslos an, wie etwa in seinem Werk «Die Schweiz ist des Wahnsinns». In seiner Dankesrede betonte Bärfuss, dass der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus eine zentrale Aufgabe jeder demokratischen Gesellschaft sei und appellierte vor allem an die junge Generation sich dieser wichtigen Debatte nicht zu entziehen. Die GRA und GMS würdigen mit der Auszeichnung Lukas Bärfuss’ unermüdliches Engagement für eine offene Diskussionskultur und seinen Mut, Missstände klar zu benennen, wo andere still bleiben.

Die zweite Preisträgerin ist die Juristin Denise Graf. Seit mehr als 30 Jahren kämpft Graf für die Verteidigung der Menschenrechte und für die Asylrechte von politisch Verfolgten. Die Laudatorin Manon Schick lobte Grafs aussergewöhnliche Hartnäckigkeit, ihre Weigerung, Willkür zu akzeptieren und ihre ausserordentliche Empathie gegenüber vulnerablen Menschen. Dank dieser Eigenschaften konnte Denise Graf das Leben von Flüchtenden nachhaltig verbessern. In ihrer Dankesrede betonte die Preisträgerin die Wichtigkeit des persönlichen Einsatzes jedes Einzelnen und forderte eine «gesunde Empörungskultur», die es braucht, um bestehende Missstände aufzuzeigen und letztlich auch zu bekämpfen. Mit der Auszeichnung ehren die GRA und GMS Grafs langjährigen Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Diskriminierung.

In seiner Festansprache sprach der Historiker Prof. Dr. Dr. Urs Altermatt über die Herausforderungen und Verpflichtungen Europas und der Schweiz als Einwanderungsgesellschaften. Das Rüstzeug für ein gelungenes Zusammenleben sieht er im «Gemeinsinn, Solidarität, Respekt und Toleranz» und im Bestehen mehrerer Erinnerungskulturen. Dies ermögliche einerseits das Bewahren der Identität und kulturellen Eigenheiten, andererseits das Schaffen eines Raums für andere Kulturen, Ethnien und Religionen.

Der Nanny und Erich Fischhof-Preis in Höhe von CHF 25‘000 pro Preisträger:in wird an Persönlichkeiten oder Institutionen verliehen, die sich in der Bekämpfung von Rassismus im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen in der Schweiz verdient gemacht haben.

Die bisherigen Preisträger

Lukas Bärfuss, Schriftsteller und Denise Graf, Aktivistin und Juristin (2021); Walter Kälin, emeritierter Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern und Iluska Grass, Grafikerin sowie Produkte- und Industriedesignerin (2018); Amira Hafner-Al Jabaji, Publizistin, Islamwissenschaftlerin und Moderatorin der «Sternstunde Religion» und Samuel Althof Kessler, Extremismusexperte, Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention FEXX (2016); Marcus Pfister, Autor und Illustrator (2014); Dr. Claudia Kaufmann, Ombudsfrau der Stadt Zürich, und Ständerat Dr. Dick F. Marty (2011); Robert Huber, Präsident der Radgenossenschaft der Landstrasse, und der Rapper Stress (2009); Menschenrechtsaktivistin Dr. h.c. Anni Lanz und Prof. Dr. Georg Kreis, Präsident der Eidg. Kommission gegen Rassismus (2007); FIFA-Präsident Joseph S. Blatter und Nationalrat Paul Rechsteiner (2005); Bundesrat Kaspar Villiger (2003); Stadtpräsident Josef Estermann und Dr. Rolf Bloch (2001); Bundesrat Flavio Cotti (1999); Nationalrätin Cécile Bühlmann und Nationalrätin Dr. Lili Nabholz-Haidegger (1997); Nationalrätin Rosmarie Dormann und Autor Peter Hirsch-Surava (1995); Nationalrätin Verena Grendelmeier und Autor Jürg Frischknecht (1994); Autor Dr. h.c. Alfred A. Häsler und Filmemacher Rolf Lyssy (1992).

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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