GMS Standpunkt “Burkaverbot – quo vadis Helvetia?”
26.03.2021

Das Volk hat gesprochen: Die Schweizerische Bundesverfassung ist um einen Artikel reicher, der sich gegen eine einzelne Minderheit richtet. Es hat damit ein Zeichen gesetzt. Nicht gegen den «politischen Islam» und «Islamismus», sondern zugunsten des «politischen Islams», denn dem ist dieses «Zeichen» nämlich noch so willkommen, unterstützt es doch dessen Narrativ vom Westen, der Islam und Muslime hasse und als Feinde betrachte, wo Muslime nicht willkommen seien und unterdrückt würden. Das Schweizer Stimmvolk hat aber vor allem ein Zeichen gesetzt dafür, dass das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit, was die Muslime in diesem Land betrifft, allmählich zu einer leeren Floskel verkommt.

 

Für die grosse Mehrheit der Musliminnen und Muslime in diesem Land wird sich nicht viel ändern. Was bleibt ist eine tiefe Frustration darüber, dass man mit Islamfeindlichkeit nach wie vor Stimmen machen und Referenden gewinnen kann. Wenn auch diesmal mit weniger grossem Erfolg als seinerzeit bei der Anti-Minarett-Initiative. Viele Musliminnen und Muslime sind auch überzeugt, dass es nicht dabei bleiben wird. Man wird als nächstes gegen das Kopftuch von muslimischen Frauen ins Feld ziehen und die ganzen Debatten ‒ die eigentlich diesen Namen gar nicht verdienen, weil zwar viel mit Verschwörungstheorien, unsinnigen Behauptungen und Zuschreibungen, aber selten sachlich mit Fakten argumentiert wird ‒ werden von Neuem beginnen.

 

Was kann man also tun, als politisch interessierte Muslimin, gesellschaftlich engagierter Muslim, wenn man nicht einfach verzweifeln will? Man kann sich vielleicht damit trösten, dass sowohl der Bundesrat als auch das Parlament das Verhüllungsverbot abgelehnt haben. Desgleichen alle grossen Parteien ausser der SVP. Abgelehnt wurde die Initiative auch von den Landeskirchen und dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, von interreligiösen Organisationen wie der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft der Schweiz, dem Rat der Religionen, der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus und anderen NGOs und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Abgelehnt wurde ein Burkaverbot zudem von der Landsgemeinde des Kantons Glarus und den Kantonsparlamenten von Bern, Freiburg, Schwyz, Solothurn und Zürich. Dass es also durchaus Kräfte gibt in diesem Land, die bereit sind, Musliminnen und Muslime als gleichwertige Bürgerinnen und Bürger in diesem Land zu akzeptieren. Man kann einen Lichtblick am Horizont auch in verschiedenen Projekten sehen, die darauf abzielen, die muslimischen Gemeinschaften besser in die schweizerische Religionslandschaft zu integrieren, indem man beispielsweise im Kanton Waadt einen Prozess gestartet hat, der ‒ wenn alles gut geht ‒ in einigen Jahren zu einer Art öffentlichen Anerkennung der muslimischen Gemeinschaft im Kanton führen kann. Dass man auf wissenschaftlicher Ebene an der Universität Fribourg das Schweizerische Institut für Islam und Gesellschaft etabliert hat, welches zwar keine Imame ausbildet, aber dafür Weiterbildungsangebote auf verschiedenen Ebenen inklusive Doktoratsprogramm für den akademischen Nachwuchs anbietet. Dass es Bestrebungen gibt, die strukturellen Verbesserungen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft anzuerkennen und diese weiter zu unterstützen, damit Behörden verlässliche Ansprechpartner auf der muslimischen Seite haben. Man kann sich damit trösten, dass es in Zürich ein Projekt mit dem etwas sperrigen Namen QuaMS gibt. QuaMS steht für den Aufbau einer qualitativ hochstehenden muslimischen Seelsorge in öffentlichen Institutionen wie Spitälern, Pflegeeinrichtungen sowie Asylzentren. Es ist ein gemeinsames Projekt der Vereinigung der muslimischen Organisationen Zürich und dem Kanton Zürich unter Einbezug der beiden Landeskirchen. Der Kanton Zürich zeigt damit seine Bereitschaft zu einer neuen Religionspolitik, gemäss deren auch die Leistungen und Aktivitäten der öffentlich-rechtlich nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung unterstützt werden können. Noch sind viele dieser Projekte allerdings längerfristig finanziell nicht gesichert.

 

Auf das Stimmvolk können sich Musliminnen und Muslime in der Schweiz leider nicht verlassen, aber Hominum confusione providentia Dei Helvetia regitur – auf Deutsch: Bei aller Konfusion der Menschen wird die Schweiz durch Gottes Vorsehung regiert (Wahlspruch aus dem 16. Jahrhundert). Es gibt also noch Hoffnung.

 

Dr. Rifa’at Lenzin, Präsidentin QuaMS Muslimische Seelsorge Zürich

 


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27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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