Jenische, Sinti und Roma in der Schweiz
19.07.2022

Obwohl es sich bei Jenischen, Sinti:zze und Rom:nja um unterschiedliche ethnische Gruppen handelt, werden sie häufig in denselben Topf geworfen. Nach wie vor bestehen viele negative Vorurteile gegenüber diesen in der Schweiz lebenden Minderheiten. Dies stellt sie vor Schwierigkeiten im alltäglichen Leben und führt zu Diskriminierungen in verschiedenen Lebensbereichen.

 

In der Schweiz leben ca. 30’000 Jenische und einige hundert Sinti:zze. Nur etwa 2’000 – 3’000 davon pflegen eine fahrende bzw. halbnomadische Lebensweise. Die rund 50’000 in der Schweiz lebenden Rom:nja sind allesamt sesshaft. Alle drei Gruppen leben entweder schon immer oder seit sehr langer Zeit in der Schweiz. Im Sommer durchfahren auch ausländische fahrende Rom:nja das Land.

 

Jenische sind eine kulturelle Minderheit, die in der Schweiz, Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg einheimisch ist. Die eigene Sprache, das Jenische, lehnt an die jeweiligen Regionalsprachen an und bedient sich Ausdrücken aus dem Romanés, dem Jiddischen und dem Rotwelschen. Von den ca. 30’000 Jenischen in der Schweiz pflegen nur etwa 2’000-3’000 eine halbnomadische Lebensweise.

 

Sinti:zze leben vor allem in Deutschland und Österreich. In der Schweiz leben nur wenige Sinti:zze und sie werden häufig mit den Jenischen in Verbindung gebracht. Sie nennen sich in der Deutschschweiz auch «Manische», ein Ausdruck, der von der französischen Bezeichnung «Manouches» kommt. Die Manouches sind hauptsächlich in Frankreich ansässig. Weder die Jenischen, Sinti:zze oder Manouches verstehen sich zumindest in der Schweiz nicht als Rom:nja.

 

Der Bundesrat hat die Jenischen, die Sinti:zze und Manouches als nationale Minderheiten im Sinne des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats anerkannt. Auch die Rom:nja fordern eine solche Anerkennung. Die GMS ist der Ansicht, dass der Bundesrat dieser Forderung nachkommen sollte. Einerseits hätte dies einen bedeutungsvollen symbolischen Wert, andererseits würde den Rom:nja durch das Rahmenabkommen zudem einen grösseren Schutz sowie die Möglichkeit gewährt, ihre eigene Kultur öffentlich und ohne Angst zu leben.

 

Die Rom:nja sind eine eigenständige ethnische Gruppierung, die sich aus zahlreichen Bevölkerungsgruppen mit gemeinsamer indischer Herkunft und Sprache zusammensetzt. Die meisten und grössten dieser Gruppen leben in Rumänien, Ungarn, der Slowakei und Bulgarien. Auch dort sind die Gruppierungen wiederum in eine Vielzahl von Teilgruppen unterteilt. Der Europarat, die EU, die UNO und weitere internationale Organisationen verwenden die Bezeichnung «Roma» als Sammelbegriff, der alle Gruppen ohne festes eigenes Territorium einschliesst. Dieser Sammelbegriff hat sich etwa auch in den Medien etabliert. In Deutschland und Österreich wird offiziell die Bezeichnung «Roma und Sinti» verwendet. Die in der Schweiz lebenden Rom:nja sind mehrheitlich zwischen 1960 und 1990 eingewandert. Grösstenteils waren sie schon immer sesshaft und sind es auch heute noch. Fahrende Schweizer Rom:nja gibt es kaum. Die Rom:nja, die eine fahrende Lebensweise pflegen und die Schweiz vor allem in den Sommermonaten durchfahren, sind hauptsächlich aus den Nachbarländern, zum Beispiel aus Frankreich.

 

Auch heutzutage halten sich über Jenische, Sinti:zze/Manouches und Rom:nja immer noch viele hartnäckige negative Vorurteile. Diese Minderheiten werden etwa pauschal als «Zigeuner» bezeichnet und in der medialen Berichterstattung mit Armut, (Banden-)Kriminalität und Bettelei in Zusammenhang gebracht. Es gibt sogar Gemeinden, die vor angeblichen Betrugsgeschäften durch Fahrende warnen. Solche Stereotype führen regelmässig zu Diskriminierung und Benachteiligungen von – besonders fahrenden – Jenischen, Sinti:zze/Manouches und Rom:nja. So wird ihnen beispielsweise der Zugang zu Campingplätzen verwehrt, sie werden von der Polizei unverhältnismässig oft kontrolliert oder von den Behörden ungleich behandelt, etwa bei der Anmeldung in einer Gemeinde. Diese Erfahrungen– landläufig als «Antiziganismus» (d.h. Rassismus gegen Rom:nja, Sinti:zze/Manouches und Jenische) bezeichnet – haben massive negative Auswirkungen auf Bildung und die allg. Lebenssituation der betroffenen Familien. Darüber hinaus wird von gewissen politischen Parteien immer wieder politische Hetze gegen fahrende Gemeinschaften betrieben, um so die Errichtung von Halteplätzen zu verhindern. Dies, obwohl in der Schweiz bereits seit langer Zeit ein enormer Mangel an Halteplätzen für Fahrende Gemeinschaften und somit dringender Handlungsbedarf besteht (vgl. GMS-Standpunkt vom 31. Mai 2021).

 

Massnahmen aus der Vergangenheit, etwa das Projekt «Kinder der Landstrasse», welches systematisch Kinder aus fahrenden Familien entriss, führten zu diskriminierenden und traumatisierenden Situationen in der Jugend, die wiederum komplexe Probleme psychischer und finanzieller Art zur Folge hatten. So waren die betroffenen Personen und Familien oft nicht sozial und ökonomisch autark, und der Zugang zu Bildung für fahrende Kinder war erschwert. Wegen solchen Massnahmen sind Jenische und Sinti:zze/Manouches heute überproportional von Sozialhilfe abhängig. Das Bundesgericht hat immerhin entschieden, dass sich Fahrende beim Entscheid über eine IV-Rente nicht dieselben Arbeitsmöglichkeiten anrechnen lassen müssen, wie sesshafte Personen, weil ihr fahrender Lebensstil berücksichtigt werden müsse.

 

Die GMS setzt sich dafür ein, dass Vorurteile gegenüber Jenischen, Sinti:zze/Manouches und Rom:nja, insbesondere gegenüber den fahrenden Gruppierungen, weiter abgebaut werden. Nur so können Diskriminierungen und Benachteiligungen bekämpft werden. Und nicht zuletzt müssen für fahrende Gemeinschaften genügend Halteplätze zur Verfügung gestellt werden, die ihnen einen würdigen Lebensstil ermöglichen.

 

 

Links

Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende

Themendossier und Factsheet über Jenische, Sinti/Manouches und Roma der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR)

 

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Standpunkte

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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