Zürich, 21. März 2017 – Der neue Rassismusbericht der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und der GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz thematisiert rassistische Vorfälle des Jahres 2016. Der Schwerpunktbeitrag von Fabian Eberhard untersucht die rechtsextreme Szene in der Schweiz. Bericht und Schwerpunktbeitrag sind auf www.rassismus.ch einsehbar.

 

Im vergangenen Jahr registrierten GRA und GMS in ihrer Chronologie gleich viele rassistische Vorfälle wie im Vorjahr (2015), was allerdings nicht heisst, dass es nicht zu mehr Vorfällen gekommen wäre: Zum einen ist die Dunkelziffer gross; die Angst der Opfer, einen Vorfall zu melden, ist oftmals stärker als der Wille, die Täterschaft zur Rechenschaft zu ziehen. Zum anderen erhielten GRA und GMS fast täglich Nachrichten von Opfern rassistischer Vorfälle oder Hinweise auf fremdenfeindliche Verstösse. Diese betrafen häufig das Internet und/oder soziale Medien und wurden deshalb nicht in der Chronologie erfasst. Wie in den vergangenen Jahren wurden in der Chronologie somit öffentlich gewordene Vorfälle erfasst, die in den Medien auch publiziert wurden.

 

Im Berichtsjahr 2016 wurden gravierende Vorfälle aus dem rechtsextremen Spektrum registriert: Im Oktober 2016 fand im Kanton St. Gallen ein Konzert mit einschlägigen Neonazi-Bands statt. Laut Medienberichten nahmen rund 5000 Personen an dem Anlass teil – damit war dies der grösste Anlass von Rechtsextremen, der je in der Schweiz stattgefunden hat. Mehrere Bands, die an dem Anlass aufgetreten sind, haben Lieder mit antisemitischen Inhalten im Repertoire; Fotos vom Anlass zeigen Konzertbesucher, die den Hitlergruss machen. Die PNOS versuchte zudem von der aufgeheizten Stimmung zu profitieren, indem sie gemeinsam mit in- und ausländischen Vertretern der Neonazi-Szene weitere Treffen organisierte, um dadurch die Schweiz als «Paradies für Neonazis» darzustellen und zu missbrauchen.

 

Die andauernden Migrationsbewegungen nach Europa und Terrorbedrohungen beeinflussten weiterhin die öffentliche Debatte in der Schweiz. Die Angst vor dem Fremden bleibt bestehen und fremdenfeindliche Ressentiments sind latent vorhanden, wie unzählige Kommentare und Posts auf sozialen Medien und zu Online-Zeitungsartikeln zeigten.

 

Für die Prävention wichtig bleiben frühzeitige Aufklärung an Bildungsinstitutionen, aber auch Zivilcourage: Rassistische Internet-Einträge sollen so rasch wie möglich den zuständigen Stellen gemeldet werden. Dies können User auch über die GRA-Homepage tun: http://gra.ch/vorfall-melden/.

 

Mehr über Rassismus in der Schweiz 2016 in der Chronologie und der aktuellen Einschätzung der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und der GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz unter www.rassismus.ch.

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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