Die Idee einer Citycard für Zürich gewinnt an Boden

Ein Mensch ohne gültige Aufenthaltspapiere möchte sich weiterbilden und in der Bibliothek ein Buch ausleihen. Geht nicht. Nein, geht doch: Wenn jemand für ihn bürgt. Ein Sans-Papiers wird krank und sollte ins Spital. Wenn das Spital ihn dem Migrationsamt meldet, fliegt er hinaus. Geht also nicht. Oder geht doch, weil gewisse Spitäler dank Sondervereinbarungen mit Hilfsorganisationen die Schweigepflicht gewährleisten. Ein Kind eines Sans-Papiers kommt ins Schulalter und sollte die Schule besuchen. Geht. Nur die Elternabende können zum Problem werden, weil die Eltern sich nicht outen dürfen. Geht nicht gut.

Es gibt viele Wege, mit denen Sans-Papiers ihr Überleben halbwegs sichern. Man muss sagen, krumme Wege. Aber eben fast keine graden. Und manchmal gibt es keinen Weg: Tram fahren? Nur schon eine Billettkontrolle kann das Ende des Aufenthaltes im Land sein. Ein Verbrechen als Zeuge der Polizei melden, geht meist gar nicht.

Dabei arbeiten viele Sans-Papiers im Land (schwarz), zahlen Miete (ohne Vertrag) und tragen zum kulturellen Reichtum bei (anonym). Oft seit Jahrzehnten. In der Stadt Zürich leben nach qualifizierten Schätzungen rund 10 000 Sans-Papiers. Im Kanton sind es laut einer Studie des Staatssekretariats für Migration aus dem Jahr 2015 rund 28 000 Menschen, schätzungsweise ein Zehntel davon Kinder. Es sind Menschen, die nie ein Aufenthaltsgesuch gestellt haben, deren Antrag abgelehnt wurde, oder die einen geregelten Aufenthaltsstatus durch den Tod des Ehepartners
oder eine Scheidung verloren haben.

Sie leben in einer prekären Situation. Im öffentlichen Raum, etwa auf Spielplätzen, halten sie sich nicht auf, um nicht aufzufliegen. Die Familie lebt oft auf engstem Raum, manchmal in nur einem Zimmer, wo die Kinder sich ruhig verhalten müssen. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist mit Hürden verstellt.

Das Land verlassen können oder wollen sie oft nicht: wegen der Situation im Herkunftsland, wegen der Kinder, die hier die Schule besuchen, oder einfach nur, weil sie schon lange Wohnsitz in der Schweiz haben. Selbst wenn sie wegen eines Behördenentscheids die Schweiz verlassen müssten, sind Sans-Papiers nicht Menschen ohne Rechte. Menschenrechte gelten für alle Menschen. Grundrechte leiten sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Kinderrechtskonvention und der schweizerischen Bundesverfassung ab und gelten für alle Personen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.

Nur, wie kann man sie geltend machen? Seit einiger Zeit geistert eine Idee durch Zürich: Die Idee einer Citycard – andere sprechen von einer Citizenship-Card oder auch von einer City-ID. Eine Arbeitsgruppe City Card befasst sich damit, der auch ein Vorstandsmitglied der GMS angehört.

Die Idee:
Man schafft eine Citycard, eine Art Legi für alle Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt, nicht nur für Staatenlose. Diese Karte erlaubt es, städtische Leistungen zu beziehen: kulturelle Vergünstigungen, medizinische Hilfe, oder soziale Unterstützung. Und sie erlaubt es, Verträge abzuschliessen, beispielsweise Mietverträge oder Kontoeröffnungen. Wer diese Karte vorzeigt, beweist, dass es ihn oder sie gibt. Dass er oder sie eine Identität hat. Entscheidender Punkt müsste sein, dass auch die städtische Polizei sie akzeptiert. Und selbst die Polizei könnte ein Interesse daran haben, eben beispielsweise, wenn sie bei der Verbrechensaufklärung Mithilfe braucht. Oder wenn es um die Bekämpfung von Missbräuchen aller Art geht, Mietwucher, Ausbeutung am Arbeitsplatz. Bei der Akzeptanz durch die Polizei allerdings liegt der politisch heikelste Punkt.

Doch utopisch ist die Idee deswegen nicht. New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio hat Anfang 2015 eine solche Karte eingeführt, die auch Menschen erhalten, die ohne Aufenthaltsbewilligung leben: wer in New York wohnt, älter als 14 Jahre ist und seine Identität belegen kann. Es gibt sogar amerikanische und kanadische Städte, die sich als «Sanctuary Cities» definieren – als Zufluchtsstätten –, wo die Behörden im Umgang mit Bewohnern und Bewohnerinnen bewusst auf eine Prüfung des Aufenthaltsstatus verzichten nach dem Prinzip «Don’t ask – Don’t tell». Nicht danach fragen, nichts davon sagen.

Genau darüber, was eine solche Karte ermöglichen soll und was nicht, wird derzeit in Arbeitsgruppen heftig diskutiert. Doch die Idee greift über die Fachzirkel hinaus. Das Präsidialdepartement der Stadt Zürich hat zugesagt, sich mit dem Thema zu befassen.

Die Vorteile einer solchen Stadt-ID liegen auf der Hand:
– Es geht um die Gewährleistung von Grundrechten von Menschen und damit um die Demokratisierung der Demokratie.
– Die ganze Gesellschaft ist gesünder – psychisch und physisch – wenn alle Menschen gesünder sind.

Die City ID – bringt den Sans-Papiers keine Aufenthaltsbewilligung, aber sie trägt zur Linderung vieler Probleme bei. Darum wird sie von Interessensorganisationen der Sans-Papiers unterstützt.

Zur New Yorker Stadtkarte siehe: http://www1.nyc.gov/site/idnyc/index.page

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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