Mit der neuen Informationsbroschüre und dem dazugehörigen Mustermietvertrag leistet die Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS) einen aktiven Beitrag zur Stärkung der rechtlich geschützten Tradition der Fahrenden – dem «Spontanhalt».

Der Spontanhalt ist der befristete Aufenthalt einer Gruppe von Jenischen, Sinti oder Roma auf Privatgrund, in Wohnwagen und zu gewerblichen Zwecken. Jenische und Sinti, als anerkannte nationale Minderheiten, sollen dabei ein Anrecht auf den Schutz ihrer Lebensweise auch in der Schweiz haben.

Die neue Informationsbroschüre «Fahrende auf Privatland» liefert grundlegende Informationen für die betroffenen Landwirte und Gemeinden und erläutert die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter welchen diese Tradition in der Schweiz erlaubt ist.

Mit der Broschüre will die GMS auf eine wichtige Tradition der Fahrenden aufmerksam machen und damit einen Beitrag zur Stärkung des Grundrechtsschutzes der Minderheiten in der Schweiz leisten.

Broschüre und Mustermietvertrag sind auch auf Französisch erhältlich und können kostenlos beim Sekretariat der GMS bestellt werden.

Broschüre “Fahrende auf Privatland”

Mustermietvertrag zur Broschüre “Fahrende auf Privatland”

Der Durchmarsch der autoritären und nationalistischen Kräfte in Europa hat nicht stattgefunden. In Österreich nicht bei den Bundespräsidentenwahlen. In den Niederlanden nicht bei den Parlamentswahlen und letztens in Frankreich nicht bei den Präsidentenwahlen. Wer sich um Bürgerrechte und Minderheitenschutz Sorgen macht, hat aufgeatmet. Die Frage aber bleibt, weshalb ein politisches Konzept der Abschottung und Ausgrenzung derart grossen Zulauf gewinnen konnte, dass man fürchten musste, es könnte mehrheitsfähig sein. Und die Gefahr scheint ja bei weitem noch nicht dauerhaft gebannt zu sein.

Die politischen Analysten sind sich meist einig: Die Gründe liegen in den wirtschaftlichen Verhältnissen, heisst es. Alle politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse werden heute – auch von bürgerlichen Beobachtern – rein ökonomisch erklärt. Eine späte Genugtuung für Karl Marx. Es seien die Globalisierungsverlierer, die sich von populistischen Parolen ansprechen lassen und nationalistische Parteien wählen. In dieser Logik muss man den Globalisierungsverlierern also nur etwas mehr vom Globalisierungsgewinn abgeben und schon wählen sie wieder brav wie früher. Eine kleine Dressurnummer, hat man fast den Eindruck. In der Ökonomie selbst kommt das Konstrukt des Homo ökonomikus langsam ins Wanken, in der Politik geht man aber davon aus, dass die Wählerinnen und Wähler einzig nach wirtschaftlichen Kriterien entscheiden.

Bei allem Verständnis für diese wirtschaftliche Betrachtungsweise, die ja durchaus etwas für sich hat: Etwas geht dabei vergessen: Es geht auch um ein weltanschauliches Konzept, um die Frage, wie man Volk oder Gesellschaft versteht und wie es mit den Individualrechten bestellt sein soll. Die ökonomische Brille verschleiert den Blick auf diesen Aspekt. Am Beispiel der Personenfreizügigkeit kann man es sehr gut aufzeigen. Unter einem ökonomischen Blick geht es im Grundsatz nur um das Recht von Arbeitnehmern, Arbeitsplatz und Aufenthaltsort frei zu wählen und um die Freizügigkeit von Nichterwerbstätigen, sofern sie über genügend Existenzmittel verfügen. Die Wirkungen reichen aber weit darüber hinaus. In einem System der Personenfreizügigkeit kann man die eigene Bevölkerung faktisch nicht schlechter behandeln als die von diesem Prinzip profitierende ausländische. Ein historisch berühmtes Beispiel für dieses Faktum ist die Niederlassungsfreiheit der jüdischen Schweizerinnen und Schweizer, die ihnen erst 1866 zugestanden wurde. Der Handels- und Niederlassungsvertrag mit Frankreich von 1864 gewährte allen französischen Staatsangehörigen und damit auch den französischen Juden Rechtsgleichheit und Freizügigkeit in der Schweiz. In der Folge liess sich die bisherige skandalöse Diskriminierung der Schweizer Juden nicht mehr aufrechterhalten. 1862 noch führte der Versuch der Aargauer Regierung, die jüdische Bevölkerung gleich zu behandeln, zu einem Volksaufstand und dem Sturz von Regierung und Parlament. Die Personenfreizügigkeit setzt der staatlichen Macht auch gegenüber Diskriminierung der eigenen Bevölkerung Schranken. Es kommt hinzu, dass man in einem System der Personenfreizügigkeit die Chance hat, sich der Macht seines Staates zu entziehen. Es gibt ein kompetitiveres Verhältnis unter den Staaten und schliesst letztlich einen absoluten oder totalen Staat aus. Natürlich wollen wir nicht verhehlen, dass die unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der Staaten in einem solchen System nach einem wirksamen Ausgleich rufen.

Es ist kein Zufall, dass es die gleichen politischen Kräfte sind, die sich an der Personenfreizügigkeit und an den sogenannten fremden Richtern stören. Beides ist in ihrem Verständnis eine Einschränkung der staatlichen Macht oder Souveränität. In dieser Diskussion geht es um eine grundsätzliche, weltanschauliche Frage: Was versteht man unter dem Volk und seiner Souveränität? Ist das Volk eine „natürliche“, vorgegebene, durch gemeinsame Sprache, Kultur und Abstammung vordefinierte Grösse, in die man hineingeboren wird und aus der man seine Stellung und seine Rechte und Pflichten ableitet? Oder ist das Volk der durch den Willensakt der Verfassung konstituierte Träger demokratischer staatlicher Macht zum Schutz der Grundrechte der Einzelnen und zur Verfolgung gemeinsamer Wohlfahrt? Im ersten, „völkischen“ Konzept ist das „natürliche“ Volk das Primäre; der Einzelne leitet sich davon ab. Im „konstitutionellen“ Konzept handelt der Einzelne aus eigener Verantwortung auch im Dienste der Gemeinschaft. Diese weltanschauliche Frage muss diskutiert und ausgefochten werden. Für die vielsprachige und pluralistische Schweiz und ihre Minderheiten – ein „Europa im Kleinen“ quasi – steht ebenso viel auf dem Spiel wie für Europa im Grossen.

GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz

2017.03 Wer ist das Volk?

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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