Kirchenraum und religiöse Pluralität

Das Grossmünster Zürich ist seit 1523/1525 die Mutterkirche der zürcherischen Reformation mit schweizweiter und europäischer Ausstrahlung. Sie ist zudem die Stadtkirche unserer Stadtheiligen Felix und Regula, die ihr Leben für das Einstehen ihres Glaubens am Ort der Wasserkirche geben mussten und seit dem 8. Jhdt. bis zur Reformation 1524 im Grossmünster begraben waren. Zum dritten zeigte sich das Grossmünster in den letzten 20 Jahren immer stärker als Touristenmagneten Zürichs auch durch seine faszinierende Ausstrahlung der Kunst Augusto Giacomettis und Sigmar Polkes. Alle drei geschichtlich angereicherten Potentiale hinterlassen durch die Menschen ihre Spuren in den speziell gestimmten Kirchenraum.

Seit der grossen Versöhnungsgeste von Kirchenratspräsident und Stadtrat 2004 pilgern jährlich Hunderte von Frauen und Männer, Familien und Jugendliche von täuferischen, baptistischen, mennonitischen Gemeinden oder von amish people zum Ort, wo das Schicksal ihrer Verfolgung durch den Entscheid der Todesstrafe des Rates 1525 begann und mit dem Täufer Felix Manz im Januar 1527 sein erstes Opfer forderte. Um den 11. September prozessieren seit mehr als 10 Jahren Mitglieder der meisten orthodoxen Gemeinden der Stadt und der Umgebung vom Fraumünster über die Münsterbrücke zur Wasserkirche, um dann mit den Reliquien von Felix und Regula demselben Weg in Andacht und Erinnerung zu folgen, dem ihre Patronin und ihr Patron im 4. Jhdt. ins Grossmünster gefolgt waren. Hunderte von orthodoxen Christinnen und Christen, die in unserer Stadt wohnen und auf ihre öffentlich rechtliche Anerkennung hin arbeiten, wie es den reformierten und katholischen und christkatholischen Brüdern und Schwestern gewährt ist, feiern in ihrer, kulturell sehr unterschiedlichen Art und Weise von indischer über eritreischer bis griechischer und russischer Prägung den Gottesdienst. Schliesslich besuchten im letzten Jahr 600 000 Personen aus ästhetischen, kunsthistorischen, biografischen, spirituellen, religiösen oder geschichtlichen Gründen den Kirchenraum auf. Da trifft sich der Banker, der über Mittag seine atheistische Spiritualität bei der Betrachtung der Achatfenster von Sigmar Polke nährt auf die von Sorgen beladene Familie, die im Gebets- und Gästebuch ihre Not intim und doch öffentlich zugänglich zugleich Gott zuschreibt. Die ihr Baby stillende Mutter im Kirchenbank verstohlen hinter den Pfeilern trifft den hinduistischen Sikh Businessman mit seinem täglichen Gebet in der 12-Boten-Kapelle. Beide stillen ihren Hunger nach Sinn und Halt unterschiedlich im gleichen Raum zur gleichen Zeit.

Die Gottesdienstgemeinde der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Grossmünster, die seit 500 Jahren sich jeden Sonntag um den biblischen Text sammelt, der ausgelegt in Wort und Musik werden möchte, ist in den letzten Jahrzehnten zur Gastgeberin unzähliger religiöser Minderheiten in ihrem Kirchenraum geworden, der ja nicht der Kirche gehört, sondern im Besitz des Kantons Zürich ist. Das Zusammenwachsen der 34 Kirchgemeinden zu einer grossen, bzw. wegen der selbständigen Weiterentwicklung der Kirchgemeinden Witikon und Hirzenbach, zu drei Kirchgemeinden, in denen ca. 85‘000 Mitglieder der evang.-ref. Kirche sich ab dem nächsten Jahr zu einer Organisation finden müssen, deutet es an. Die reformierten Christinnen und Christen sind selbst zur Minderheit in der Stadt Zürich geworden.

Die Gesellschaft Minderheit in der Schweiz spiegelt sich in den Hundertschaften von Menschen unterschiedlichster Religion und Konfession, die die Stadtkirchen in der City der Städte in der Schweiz (und auch in Europa) aufsuchen. Dabei verwandelt sich die Gesellschaft in die Gemeinschaft Minderheit, die betend, singend und nachdenkend über das, was Allah, Adonaj, Gott oder der Gott ihrer Religion vorgedacht hat, zusammenfindet. Dies ist keine Vision, sondern Realität im Vollzug ritueller Handlungen einer pluralgewordenen Gesellschaft von religiösen Minderheiten.

Das Begräbnis eines in der Schweiz, Europa und der Welt bekannten, sportaffinen Unternehmers und Investors im Grossmünster vor ein paar Monaten legt dafür die Spuren offen. Anwesend waren Sportgrössen unterschiedlicher Sportarten, mit verschiedenen Nationalitäten und Religionen. An dem Ort im Gottesdienst, wo vom Ritual her das Unser Vater gebetet wird, wurden die Teilnehmenden gebeten, die Sure Al-Fatiha des Korans, das Schema Israel der Tora, das Unser Vater der Bibel oder das grundlegende Gebet ihrer Religion nun hörbar zu machen in ihrer Sprache und ihrer Tradition, miteinander und durcheinander im Glauben an Gott, den Schöpfer der Welt mit allen Menschen in ihren Kulturen und Religionen. Das Grossmünster als Heimat der reformierten Kirchgemeinde verwandelte sich augenblicklich zum Gebetsraum der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz.

Der Standpunkt der GMS verortet sich nicht nur, jedoch auch in Kirchenräumen. Mehr noch: Kirchenräume können als Forschungslabore beschrieben werden, wo Menschen versuchen, ihre grundlegend handlungsleitende und das Gewissen prägende Identität in der Spannung zwischen Öffnung und Abgrenzung in der tief berührenden Begegnung mit dem Anderen in seiner religiösen Pluralität zu formen und zu gestalten.

Christoph Sigrist
Präsident der GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz

Zürich, 6. September 2018 – Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz, unterstützt vom Sigi und Evi Feigel-Fonds, ehren mit der 14. Verleihung des Nanny und Erich-Fischhofpreises dieses Jahr zwei Menschen, die sich für Minderheiten und Menschenrechte stark gemacht haben. Preisträger und die Preisträgerin taten dies – in sehr unterschiedlichen Kontexten – unter Aufbringung von enormer Zivilcourage.

Walter Kälin ist emeritierter Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern. Er hat in Fribourg, Bern und Harvard studiert. Zu seinen aktuellen Forschungsschwerpunkten gehören der internationale Menschenrechtsschutz, die Rechte von Binnenvertriebenen sowie das Problem von Flucht und Migration im Kontext von Naturkatastrophen und Klimawandel. Er war als Experte für Bund, Kantone, internationale Organisationen sowie diverse NGOs tätig und berät heute in verschiedenen Ländern die UNO und Regierungen. Kälin wurde als erster Schweizer als unabhängiger Experte in den Menschenrechtsausschuss der UNO gewählt. Von 2004 bis 2010 war er Beauftragter des UNO-Generalsekretärs für die Menschenrechte von Binnenvertriebenen. Zudem war er 1990/91 Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission für das besetzte Kuwait. Zwischen 2011 und 2015 leitete er das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) in Bern. Heute vertritt er als Gesandter der Präsidentschaft die intergouvernementale Plattform für Katastrophenvertreibung mit Sitz in Genf.
GRA und GMS würdigen mit der Auszeichnung Walter Kälins langjähriges Engagement für den internationalen Menschenrechtsschutz sowie für vertriebene oder geflüchtete Menschen weltweit.

Iluska Grass wurde 1990 geboren. Sie ist Grafikerin sowie Produkte- und Industriedesignerin. Zurzeit studiert sie an der Zürcher Hochschule der Künste «Ästhetische Bildung und Soziokultur». Iluska Grass war am Abend des 4. Juli 2015 Zeugin eines Zwischenfalls in Zürich-Wiedikon, wo ein orthodoxer Jude von einer Gruppe rechtsradikaler Männer angegriffen wurde. Als Iluska Grass das Opfer um Hilfe schreien hörte, rannte sie ohne zu zögern zum Tatort und stellte sich zwischen Täter und Opfer. Mit ihrem couragierten Handeln konnte sie das Opfer vor seinen Angreifern schützen und damit eine weitere Eskalation verhindern.
GRA und GMS würdigen mit der Verleihung des Fischhof-Preises Iluska Grass’ bewundernswerte Zivilcourage. Ihr vorbildliches und selbstloses Verhalten in einer gefährlichen Situation setzt ein starkes Zeichen zur Rolle des Einzelnen in einer funktionierenden Gesellschaft.

Der Nanny und Erich Fischhof-Preis in Höhe von CHF 25‘000 pro Preisträger/In wird an Persönlichkeiten oder Institutionen verliehen, die sich in der Bekämpfung von Rassismus im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen in der Schweiz verdient gemacht haben. Nanny Fischhof-Barth sel. (1901–1997) stiftete den Preis in Erinnerung an ihre Schwester, die durch Heirat mit einem Belgier den Schweizer Pass verlor, nicht mehr in ihre Heimat eingelassen und so als Jüdin durch die Nazis ermordet wurde. Gleichzeitig war sie dankbar, dass ein österreichischer Jude im Krieg in der Schweiz aufgenommen und so später ihr Ehemann wurde.

Die Preisverleihung findet am 19. November 2018 in Zürich statt.

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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