Zürich, 20. November 2018 – Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz, unterstützt vom Sigi und Evi Feigel- Fonds, haben gestern Abend mit der 14. Verleihung des Nanny und Erich-Fischhofpreises zwei Menschen geehrt, die sich für Minderheiten und Menschenrechte stark gemacht haben. Preisträger und die Preisträgerin taten dies – in sehr unterschiedlichen Kontexten – unter Aufbringung von enormer Zivilcourage.

Der erste Preisträger ist Walter Kälin, emeritierter Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern und u.a. ehemaliger Leiter des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte in Bern.
GRA und GMS würdigen mit der Auszeichnung Walter Kälins langjähriges Engagement für den internationalen Menschenrechtsschutz sowie für vertriebene oder geflüchtete Menschen weltweit. Wie Kälin in seiner Dankesrede sagte, tragen Massnahmen gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen von Diskriminierungen wesentlich dazu bei, dass «unsere Gesellschaft menschlich bleibt und sich auch Angehörige von Minderheiten darin heimisch fühlen können.» Und er zitierte Nelson Mandela mit den Worten: «Einem Menschen seine Menschenrechte verweigern bedeutet, ihn in seiner Menschlichkeit zu missachten.»

Die zweite Preisträgerin, Iluska Grass, wurde 1990 geboren. Sie ist Grafikerin sowie Produkte- und Industriedesignerin.
Iluska Grass war am Abend des 4. Juli 2015 Zeugin eines Zwischenfalls in Zürich-Wiedikon, wo ein orthodoxer Jude von einer Gruppe rechtsradikaler Männer angegriffen wurde. Als Iluska Grass das Opfer um Hilfe schreien hörte, rannte sie ohne zu zögern zum Tatort und stellte sich zwischen Täter und Opfer. Mit ihrem couragierten Handeln konnte sie das Opfer vor seinen Angreifern schützen und damit eine weitere Eskalation verhindern.

GRA und GMS würdigen mit der Verleihung des Fischhof-Preises Iluska Grass’ bewundernswerte Zivilcourage. Ihr vorbildliches und selbstloses Verhalten in einer gefährlichen Situation setzt ein starkes Zeichen zur Rolle des Einzelnen in einer funktionierenden Gesellschaft.

Alt-Bundesrat Kaspar Villiger sprach in seiner Festrede anlässlich des Fischhof-Preises über die Werte unserer Gesellschaft. Er betonte, dass das einzige politische Ziel eines demokratischen Landes, welches der Würde und Einzigartigkeit der Menschen angemessen sei, das nachhaltige Wohlergehen jedes einzelnen Individuums sei. Aber auch, dass das komplexe Zusammenspiel zwischen den Sozialmodellen einer Gesellschaft, d.h. zwischen Institutionen, Märkten, Organisationen, Überzeugungen, Traditionen und Verhaltensweisen eines Staates dauernder Pflege bedürfen, da sie jederzeit wieder zerfallen können. Es brauche eine angemessene soziale Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens sowie eine Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte und eine genügende soziale Ausgeglichenheit. Zudem sei auch der Schutz des Menschen vor physischer Gewalt unabdingbar. Auch in den besten Demokratien der Welt, so Villiger, brauche es genügend Menschen, welche die demokratischen Werte mit Zähnen und Klauen verteidigen. Die Hauptarbeit zur Pflege einer demokratischen Kultur müsse, so Villiger, u.a. die Zivilgesellschaft leisten.

Der Nanny und Erich Fischhof-Preis in Höhe von CHF 25‘000 pro Preisträger/In wird an Persönlichkeiten oder Institutionen verliehen, die sich in der Bekämpfung von Rassismus im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen in der Schweiz verdient gemacht haben.

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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