In unserem Land leben schätzungsweise zwischen 80 000 und 100 000 Roma, sie sind seit 600 Jahren Teil der Schweizer Realität. Entgegen allgemeiner Vorstellungen ist die Mehrheit der Roma in der Schweiz immer sesshaft gewesen. Sie sind gut integriert und besitzen auch einen Schweizer Pass. Sie pflegen ihre Kultur und sprechen ihre eigene Sprache, das Romanes. Roma gibt es nicht nur in der Schweiz, sie sind eine transnationale europäische Minderheit. Während des 2. Weltkrieg hat sich die Schweiz an der Verfolgung der Roma beteiligt, indem sie für den Aufbau des Deutschen Zigeunerregisters Unterstützung geleistet hat und sich durch eugenische Forschung unrühmlich hervorgetan hat. Durch Grenzschliessungen und Rückführungen hat sie Leben von Roma auf dem Gewissen. Deshalb ist eine Aufarbeitung der Geschichte dringend notwendig und für die öffentliche Haltung gegenüber den Roma von grosser Bedeutung.

Roma-Organisationen haben 2015 einen Antrag zur Anerkennung der Roma als nationale Minderheit gestellt, welcher leider vom Bundesrat am 1. Juni 2018 abgelehnt wurde. Die Begründung war, dass die Schweizer Staatsbürgerschaft und der Wille zur Bewahrung der kollektiven Identität der Roma zu wenig belegt seien. Er sprach den Roma eine seit langem bestehende Bindung an die Schweiz ab, welche als Voraussetzung für die Anerkennung gegolten hätte. Aufgrund von Archiveinträgen sind Roma bereits um 1418 das erste Mal in der Schweiz aufgetaucht. Diese hatte kurz darauf ein Zigeunerverbot erlassen, das bis 1972 immer wieder erneuert worden ist. Nun wird behauptet, dass die “Zigeuner” in der Schweiz keine Roma gewesen seien, sondern ausschliesslich Sinti und Jenische.

Für die betroffenen Organisationen ist dieser Entscheid diskriminierend, zumal der Bundesrat im Herbst 2016 die Jenischen und Sinti explizit als nationale Minderheiten anerkannt hatte. Sie verlangten daraufhin eine Aussprache mit den betreffenden Amtsstellen, diese fand im Januar dieses Jahres statt. Von Seiten der Roma waren die Rroma Foundation, der Romano Dialog, der Verband Sinti und Roma Schweiz und das Roma Jam Session art Kollektiv vertreten, begleitet und unterstützt wurden sie durch die Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz. Auf Seite der Behörden waren das Generalsekretariat des Eidgenössischen Departements des Innern, die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus und das Bundesamt für Kultur dabei. Das Misstrauen nach der Ablehnung des Antrags auf Anerkennung sollte dabei sichtbar gemacht und der abgerissene Gesprächsfaden wieder aufgenommen werden. Denn es hatte von 2014-2018 einen Aktionsplan mit Massnahmen gegen den Antiziganismus und den strukturellen Rassismus gegeben. Während 4 Jahren hatten dazu Sitzungen im BAK stattgefunden und Roma, Sinti und Jenische sassen damals gemeinsam an einem Tisch, um über Medien, Racial Profiling, Bildung und Kultur, Infrastrukturen, Anti-Rassismuskampagnen zu sprechen. Die Roma hegten grosse Hoffnungen auf eine Verbesserung ihrer Situation.

Der Bundesratsentscheid vom Oktober 2018 war nach dieser Vorbereitungszeit ein Affront für sie. Sie verstanden nicht, warum die Sinti neben den Jenischen als Nationale Minderheit anerkannt wurden, die Roma hingegen nicht. Sie haben den Eindruck, dass der Bund in der Sache der Roma wenig Interesse zeigt, sich fachkundig zu machen.

So ist zum Beispiel wenig bekannt, dass die Roma schon seit 1971 politisch organisiert sind. Damals fand der erste Roma-Kongress in London statt, wo man sich darauf geeinigt hatte, dass sich die verschiedenen Gruppen Sinti, Lovara, Kalderasch, Arlii, Gurbetti usw. unter dem Oberbegriff Roma politisch organisieren sollten. Dies war damals eine Entscheidung aller und diese Entscheidung ist heute noch im Europarat und in der UNO akzeptiert und verankert. Innerhalb der einzelnen Gruppen blieb die Eigenbezeichnung selbstverständlich erhalten. Es war eine Entscheidung zur Erleichterung der Vertretung der politischen Interessen aller Minderheiten.

Seit den 1990er Jahren hat die politische Stimmung jedoch deutlich umgeschlagen und die Roma werden seither immer mehr als Fremde gesehen, zugewandert aus dem Balkan und Rumänien, ohne historischen Bezug zur Schweiz. Die Jenischen waren nun die Einheimischen und die Sinti diejenigen, die aus dem nahen Ausland zugewandert sind. Es ist wichtig zu verstehen, dass alle Gruppierungen transnationale Minderheiten sind und dass Familienbande nicht an der Grenze aufhören. Sinti und Roma sind nicht auseinander definierbar, da sie auch die Sprache teilen und viele gemeinsame Familien bilden. Die Schweiz hat durch die Nichtanerkennung der einen der drei Minderheiten aber genau diese Spaltung bewirkt und Roma und Sinti auseinanderdividiert. Die Schweizer Roma fordern, dass der Bund wissenschaftliche Grundlagen zur Klärung der Lage erarbeitet, damit Entscheidungsgrundlagen für zukünftige Debatten zur Anerkennung transparent, faktenbasiert und konstruktiv stattfinden können.

An der Sitzung im Januar konzentrierte sich das EDI darauf, die fehlende Visibilität der Roma zu benennen. Die Nichtanerkennung sei nicht so schlimm, da Fördermittel auch für die Anliegen der Roma vom Bund zur Verfügung stehen würden. Den Roma geht es aber nicht um Geld, sondern um die ethische und politische Dimension der Anerkennung. Das EDI schloss eine Wiedererwägung aus, da die Roma Kultur in eigenen kulturellen Vereinen nicht sichtbar sei. Das war ja als Hauptgrund für die Nichtanerkennung ins Feld geführt worden. Die Repräsentation der Roma in Vereinen ist eine eher eingrenzende Forderung, da man sich bei den Roma in Familienverbänden trifft und sich, aus Furcht vor der Stigmatisierung, nur wenige als Roma öffentlich bezeichnen. Um das zu ändern, wäre die Anerkennung sehr hilfreich gewesen.

Auch wenn das Gespräch nicht wirkliche Fortschritte gebracht hat, hoffen die Roma weiterhin, dass für die Gleichberechtigung von Roma, Sinti und Jenischen in der Schweiz in Zukunft zusätzliche Anstrengungen von Bundesseite gemacht werden. Das betrifft die Anerkennung, die Infrastruktur für Fahrende, die Polizeiarbeit, das Engagement gegen Antiziganismus sowie den politischen Einbezug der drei Minderheiten und die Aufarbeitung der Geschichte der Roma in der Schweiz.

GMS Standpunkt: Roma in der Schweiz

Donnerstag, 6. Juni 2019
19.30 Uhr Referat von Ladina Heimgartner
20.30 Uhr Apéro
21.00 Uhr Schluss der Veranstaltung
Kulturhaus Helferei,
Raum: Breitinger,
Kirchgasse 13, 8001 Zürich

«Die Rolle und Bedeutung von RTR für die romanische Minderheit in der Schweiz»
Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR) ist eine Unternehmenseinheit der SRG SSR und erbringt
den «Service public» für die Svizra rumantscha – die rätoromanische Schweiz. Ladina Heimgartner,
RTR-Direktorin, erzählt in ihrem Vortrag unter anderem von den linguistischen Besonderheiten des
Rätoromanischen, mit seinen fünf Idiomen und der überregionalen Schriftsprache Rumantsch, Grischun und den damit verbundenen Herausforderungen und Chancen für die tägliche Medienarbeitvon RTR.

Ladina Heimgartner ist Direktorin von Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR) und stellvertretende Generaldirektorin der SRG SSR. Heimgartner (*1980) ist in Scuol im Unterengadin (GR) geboren und aufgewachsen. Nach der Matura am Hochalpinen Institut Ftan hat sie in Freiburg i. Üe. Germanistik und Rätoromanisch studiert (lic. phil. I). Heimgartner begann ihre journalistische Laufbahn 2001 als freie Mitarbeiterin der«Freiburger Nachrichten» und als Mitarbeiterin des «Bündner Tagblatt». Nach Abschluss ihres Studiums übernahm sie 2006 die Leitung des Ressorts Kultur beim «Bündner Tagblatt». Seit 2007 arbeitet sie für die SRG SSR: zuerst als Redaktorin von Radio Rumantsch, danach als Leiterin des Hintergrund-Ressorts und als stellvertretende Chefredaktorin von Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR). 2011 wechselte Ladina Heimgartner zur Generaldirektion der SRG SSR nach Bern, wo sie den neu geschaffenen Bereich Märkte und Qualität aufgebaut und während dreier Jahre geleitet hat. Seit dem 1. August 2014 ist Ladina Heimgartner Direktorin der rätoromanischen Unternehmenseinheit RTR und seit Anfang Oktober 2017 ausserdem stellvertretende Generaldirektorin der SRG SSR. Innerhalb der SRG SSR ist sie vor allem für Themen rund um den «Service public»sowie für Kontakte mit der Medienwissenschaft zuständig.

Referat Ladina Heimgartner 06.06.2019

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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