Die Zahlen sind eindrücklich: In den vergangenen zehn Jahren mussten jährlich im Durchschnitt rund 24 Millionen Menschen wegen plötzlicher Naturgewalten wie Erdbeben, Überschwemmungen oder tropischer Stürme evakuiert werden oder aus ihren Häusern, Wohnungen und Wohnorten fliehen. Andere waren gezwungen, wegen Dürren Zuflucht an Orten zu suchen, wo sie Zugang zu humanitärer Hilfe hatten. Die meisten Menschen, die wegen Umweltkatastrophen fliehen müssen, bleiben im eigenen Land als Binnenvertriebene. Flucht ins Ausland ist seltener, aber eine Realität. Fast 300’000 Opfer von Dürre und Hungersnot in Somalia fanden in den Jahren 2011 und 2012 Zuflucht in den Nachbarstaaten. Rund ein Fünftel der Bevölkerung verliess 2017 den von Hurrikan Maria zerstörten karibischen Inselstaat Dominica.

Solche Ereignisse werden in der Zukunft zunehmen. Fall es nicht gelingt, den globalen Temperaturanstieg wirksam in den Griff zu bekommen, werden Millionen von Menschen wegen negativer Auswirkungen des Klimawandels wie der Anstieg des Meeresspiegels oder häufigere Dürren ihre Lebensgrundlage verlieren. Falls keine wirksamen Massnahmen gegen die globale Erwärmung und ihre Folgen ergriffen werden, riskieren laut Schätzungen der Weltbank allein in den afrikanischen Staaten südlich der Sahara sowie in Südasien und Lateinamerika 143 Millionen Menschen, migrieren zu müssen, wobei die Mehrheit Zuflucht im eigenen Land suchen wird.

Im Kontext des Klimawandels und anderer Umweltkatastrophen werden Menschen zur Evakuation, Zwangsumsiedlung oder Flucht gezwungen wenn die drei Faktoren Naturgewalt, Ausgesetzt-Sein und Verletzlichkeit zusammenspielen: Wer in einem Armenviertel an einem Steilhang in einem schlecht gebauten Haus leben muss, riskiert eher, Opfer von Erdrutschen während massiver Regenfällen zu werden als die Bevölkerung reicher Stadtviertel. «Natur»katastrophen sind nicht nur natürlich; vielmehr spielen menschliche Faktoren eine entscheidende Rolle, ob Naturereignisse katastrophale Auswirkungen haben.

Dies erklärt, warum der Klimawandel Minderheiten besonders hart trifft. Wirtschaftlich und sozial marginalisierte Minderheiten sind in Zeiten von Dürre und ähnlicher Katastrophen besonders verletzlich. Die meisten der geschätzten 250‘000 Hungertoten während der Dürre von 2011/12 in Somalia waren Angehörige von Minderheitenclans oder gehörten zur schwarzen Bevölkerung der Somali Bantus. Anders als Mitglieder der mächtigsten Clans erhielten sie keine Unterstützung von reichen Geschäftsleuten oder der Diaspora. Heute gehören die Mehrheit der Binnenvertriebenen in Kismayo, der grössten Stadt in Südsomalia, und die Hälfte der Vertriebenen in der Hauptstadt Mogadischu zu diesen Bevölkerungsgruppen.

Minderheiten leben oft an Orten, die am stärksten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind und ihre Armut verschärft ihre Verwundbarkeit. Die indigene Bevölkerung an der Küste von Alaska beispielsweise ist vom überdurchschnittlich starken Temperaturanstieg in der Arktis besonders betroffen. Weil das Meereis, welche sie vor Sturmfluten schützte, geschmolzen ist und der Permafrost, auf welchem die Häuser gebaut sind, auftaut, sind Kivalina, Newtok und weitere Dörfer direkt von starker Erosion betroffen. Umsiedlungen sind seit längerer Zeit geplant, wegen unklarer Zuständigkeiten, bürokratischer Hindernisse und fehlender Mittel ist der Prozess aber weitgehend blockiert. Wenn nichts geschieht, werden diese Menschen eines Tages fliehen müssen, weil ihr Leben akut bedroht ist.

Die indigene Bevölkerung des Guna Yala Archipels in Panama ist bereits einen Schritt weiter: Wegen des Anstiegs des Meeresspiegels, aber auch als Folge von Überbevölkerung haben einige der tiefliegenden Inseldörfer bereits die Umsiedlung auf das nahe Festland begonnen. Auch wenn diese Gebiete ihnen gehören, wird dies massive Auswirkungen auf ihren traditionellen Lebensstil haben.

In den Medien präsenter ist das Schicksal von Kiribati, Tuvalu und weiterer tiefliegender Inselstaaten im Pazifik. Sie werden wegen der Erosion der Küsten und vermehrter und stärkerer Sturmfluten, welche Böden und das Grundwassers versalzen, lange vor ihrer Überflutung unbewohnbar werden. Für wichtige Teile ihrer indigenen Bevölkerung bleibt früher oder später wohl nur der Weg in ein anderes Land. Bereits heute sind temporäre und zirkuläre Migration Mittel, um angesichts schwierig werdender Lebensbedingungen mit Überweisungen die finanzielle Situation der Zurückgebliebenen zu verbessern. Neuseeland und Australien haben zu diesem Zweck Programme für Saisonarbeiter geschaffen, welche unterstützt werden, mit dem Verdienst die Resilienz ihrer Familien und Dorfgemeinschaften zu stärken. Langfristig droht permanente Auswanderung zum Normalfall zu werden. Dass dabei die traditionelle Kultur verloren gehen wird, ist eine der Hauptbefürchtungen der betroffenen Menschen.

Was lässt sich tun? Die Reduktion der Treibhausgase gemäss dem Pariser Klimaübereinkommen von 2015 ist eine Massnahme, die uns allen, in ganz besonderem Ausmass aber von Klimawandel bedrohten Minderheiten hilft. Instrumente der Katastrophenrisikominderung oder Anpassungen an den Klimawandel wie die Einführung dürreresistenter Pflanzen in ländlichen Gebieten tragen dazu bei, dass solche Menschen besser gegen Gefahren und den Verlust ihrer Lebensgrundlagen geschützt sind. Geplante Umsiedlungen mit Partizipation der betroffenen Bevölkerung oder die Eröffnung legaler Migrationsmöglichkeiten erlauben Personen in Risikogebieten wegzugehen bevor sie eine Katastrophe trifft und sie fliehen müssen. Wo all dies nichts nützt, braucht es Schutz und humanitäre Hilfe für Vertriebene.

Text von Prof. em. Walter Kälin,
Gesandter der Plattform für Katastrophenvertreibung

GMS Standpunkt: Klimawandel und Zwangsmigration

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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