Die Züricher Stimmbevölkerung hat entschieden, vorläufig aufgenommene Personen im Kanton Zürich nicht mehr durch Sozialhilfe, sondern nur noch durch Asylfürsorge zu unterstützen. Dies bedeutet eine Kürzung von 30% und mehr und stellt die Betroffenen vor Probleme. Sie haben Mühe, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Unvorhergesehene Ausgaben haben keinen Platz im äusserst knappen Budget. Das Rote Kreuz appelliert an die Behörden, die Missstände anzuschauen und das neue Gesetz menschenwürdig umzusetzen.

Die SOS-Beratung des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) ist eine niederschwellige Anlauf- und Triagestelle, welche vernetzt mit anderen spezialisierten Beratungsstellen zusammenarbeitet. Ihre Aufgabe besteht in der Beratung und Unterstützung von Menschen in Not.

Ein beachtlicher Teil der Klientinnen und Klienten der SOS-Beratungsstelle sind Personen mit einer F-Bewilligung, also Menschen, die meist Opfer von kriegerischen Auseinandersetzungen, Gewalt und Verfolgung sind, die nicht in ihr Heimatland zurückgeschickt werden können, die aber nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Diese Personen werden in der Schweiz bleiben, gleichzeitig wird ihnen durch das neue Gesetz die Integration erschwert. Dies widerspricht diametral der Integrationsagenda des Bundes.

Der Willkür der Behörden ausgeliefert

Gemäss neuem Gesetz werden vorläufig aufgenommene Personen von der ordentlichen Sozialhilfe ausgeschlossen. Was einfach klingt, wirkt sich in der Praxis wie ein Glücksspiel aus. Aufgrund fehlender Mindeststandards können die Gemeinden das neue Gesetz willkürlich anwenden: möglichst human und auf die Integration konzentriert oder möglichst hart, um zu sparen.

In der Praxis sind es aber schlicht und einfach Menschen, die ihre Grundbedürfnisse nicht mehr abdecken können. Das Beispiel einer Familie:

Familie Awad (Name geändert) lebt seit 2014 in der Schweiz. Awads haben drei Kinder im Alter von 1 – 4 Jahren. Die Familie hat seit 2017 eine F-Bewilligung und lebt in einer Gemeinde, welche die Asylfürsorge besonders restriktiv anwendet. Gemäss SKOS-Richtlinien würde der Grundbedarf der Familie 2’386 Franken betragen. Die Familie erhält aber lediglich 1’645 Franken. Da die drei Kinder vom Alter her nahe beieinander sind, sind die Ausgaben für Windeln und Milchpulver besonders hoch. Die prekäre finanzielle Situation und die sehr angespannten Wohnverhältnisse in einer Kollektivunterkunft bringen für Eltern und Kinder Stress mit sich, was sich auch auf das Trockenwerden der Kinder, die Stillmöglichkeiten der Mutter und die Ernährung der Kinder – Verweigerung fester Nahrung – niederschlägt und die Ausgaben für Windeln und Milchpulver wiederum ansteigen lässt.

Durch den ungenügenden Grundbetrag der Asylfürsorge gerät die Familie in einen Teufelskreis, der es ihr erschwert, sich zu integrieren und ihr Leben selbständig in die Hand zu nehmen. Zusätzliche Schikanen belasten sie. Die Eltern besuchen einen Deutschkurs, gleichzeitig werden ihnen die dazu benötigten Fahrkosten berechnet, Fahrkosten, die sie sich nicht leisten können. Teufelskreis auch deshalb, weil ihnen nach neuem Gesetz nur noch eine Kollektivunterkunft zur Verfügung gestellt werden muss. Ein normales Familienleben und die Möglichkeit, in den Arbeits- und Wohnungsmarkt einzudringen wird durch die Folgen der Budgetkürzung erschwert.

Integrationsagenda des Bundes wird unterlaufen

Es ist nicht die Aufgabe des Schweizerischen Roten Kreuzes, Politik zu betreiben. Den gefällten Volksentscheid stellen wir nicht in Frage, wir wollen und müssen aber auf Missstände hinweisen. Das SRK ist dem Grundsatz der Menschlichkeit verpflichtet und muss dort anmahnen, wo dieser Grundsatz verletzt wird.

Das System der Asylfürsorge war ursprünglich für die Unterstützung von Asylsuchenden für die Dauer ihres Asylprozesses gedacht gewesen, d.h. es war nicht gedacht für Personen, die mehrheitlich in der Schweiz bleiben werden. Das System der Asylfürsorge war nur als Übergangslösung gedacht gewesen.

Die Familie Awad wird aber noch länger in diesem System hängen bleiben, ohne Aussicht auf ein eigenständiges, verantwortungsvolles Leben, weil ihre Chancen, auf dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, sehr gering sind.

Die Familie Awad wird vom Schweizerischen Roten Kreuz des Kantons Zürich unterstützt. Gleichzeitig weisen wir darauf hin, dass wir nicht in der Lage sein werden, die steigende Anzahl an Familien in analogen Situationen permanent betreuen zu können.

Seit Kurzem wird die von Bund und Kantonen lancierte Integrationsagenda umgesetzt, welche Familien wie die Awads befähigen soll, sich nachhaltig zu integrieren. Viele Gemeinden des Kantons Zürich setzen die Asylfürsorgeansätze aber so tief an, dass die Integration der Betroffenen aktiv behindert wird.

Es ist nun an den Behörden, aber auch an der Zivilgesellschaft, den Missstand anzuschauen und die nötigen Massnahmen zu ergreifen.

Text von Barbara Schmid-Federer,
Präsidentin Schweizerisches Rotes Kreuz Kanton Zürich,
Beirätin GMS-Vorstand

GMS-Standpunkt: Bedürftige Geflüchtete bringen das Schweizerische Rote Kreuz des Kantons Zürich an den Anschlag

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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