Dienstag, 3. Dezember 2019, 19.30-20.30 Uhr, anschliessend Apéro riche
Kulturhaus Helferei Zürich
Breitinger Saal
Kirchgasse 13, 8001 Zürich

Eintritt frei
Keine Anmeldung erforderlich

Das Zürcher Reformationsjahr 1519/2019 lädt dazu ein, die Reformation auch in ihrem Verhältnis zu Andersgläubigen zu betrachten. Obschon in der Stadt Zürich seit dem ausgehenden Mittelalter keine Jüdinnen und Juden mehr lebten, so bestanden doch gelegentliche Kontakte und auch Interesse der reformierten Gelehrten an der Hebräischen Sprache und altbiblischen Texten. Doch die alt- wie die neugläubige Kirche tat sich bis in die Gegenwart schwer mit dem Judentum. Anhand der Reformatoren Luther, Zwingli und Bullinger diskutiert die Expertenrunde die heikle Annäherung im Zeichen des 500-Jahr-Jubiläums. Und: Wie ist das Verhältnis zwischen den Religionen heute? Welche Lehren können für die Zukunft gezogen werden?

Grussbotschaft durch Michael Bischof, Stv. Leiter Integrationsförderung der Stadt Zürich

Moderation: Olivia Röllin moderiert seit Anfang Jahr die «Sternstunde Religion» im Schweizer Fernsehen.

Podiumsteilnehmende:

Prof. Dr. em. Jacques Picard

Jacques Picard ist Historiker und Emeritus für Allgemeine und Jüdische Geschichte und Kultur der Moderne an der Universität Basel. Von 1996 bis 2001 war er Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, danach war er Leiter des Instituts für Jüdische Studien und Forschungsdekan der Philosophisch-Historischen Fakultät an der Universität Basel. 2016 erhielt er für die Anthologie «Makers of Jewish Modernity» den National Jewish Book Award.

Pfarrer, Prof. Dr. theol. Christoph Sigrist, Präsident GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz

Christoph Sigrist ist seit 2003 Pfarrer am Grossmünster in Zürich. Seit August 2018 ist er zudem Titularprofessor für Diakoniewissenschaft an der theologischen Fakultät der Universität Bern. Nebst diversen Engagements in Stiftungen und Hilfswerken ist Christoph Sigrist seit Sommer 2016 als Botschafter der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich für das Gedenken «500 Jahre Reformation» tätig.

Lic. phil. Peter Niederhäuser

Peter Niederhäuser ist Historiker. Er studierte Geschichte in Zürich, Lausanne und Leipzig und forscht und publiziert heute zur spätmittelalterlichen Ostschweiz mit Schwergewicht auf Adel und Habsburg, zu Stadt- und Ortsgeschichten sowie zur Industrie- und Architekturgeschichte. Zudem ist er Herausgeber von «Verfolgt, verdrängt, vergessen?» über die Schatten der Reformation.

Einladung Veranstaltung Reformation und Antisemitismus 3.12.2019

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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