Ende November ging die Nachricht durch die Medien, dass an einer Schule im Sankt Gallischen Wil drei Weihnachtslieder an der (traditionellen) Weihnachts- bzw. Adventsfeier der Schule vom 20. Dezember nicht mehr gesungen würden, um die religiösen Gefühle von «Andersgläubigen» nicht zu verletzen, weil in diesen Liedern die Geburt Jesu unter anderem als «S grööschte Gschänk» thematisiert würde.

Laut Medienbericht sei in früheren Jahren von verschiedener Seite Kritik an der Liedauswahl laut geworden, da sich inzwischen mehr Angehörige von nicht-christlichen Religionen als Christinnen und Christen in der Kirche befänden.

Vor wenigen Jahren hat sich die GMS in einem Standpunkt gegen die Verurteilung eines muslimischen Vaters gewendet, welcher eines seiner Kinder nicht am Weihnachtssingen in der Kirche teilnehmen lassen wollte und sich damals (wie heute) auf den Standpunkt gestellt, dass es einem (nicht-christlichen) Kind und dessen Eltern allein auf Grund der verfassungsmässigen Religionsfreiheit freizustellen ist, ob das Kind und/oder die Eltern an einer religiösen Feier in der Kirche teilnehmen wollen oder nicht. Alles andere, jeder Zwang zur Teilnahme an einer religiösen Zeremonie ‒ auch wenn das Gesetz zum selbstverständlich sinnvollen «Zwang» zum Schulbesuch es anders vorsieht ‒ verstösst gegen die absolut höher zu gewichtende, verfassungsmässig garantierte Religions- bzw. Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Dies gesagt, gilt es nun allerdings ebenso sich dagegen zu verwahren, dass aus (vermeintlicher) «Rücksicht» auf Nichtchristen gewisse Lieder anlässlich einer Advents- oder Weihnachtsfeier nicht mehr gesungen werden sollten. Einmal abgesehen davon, dass es ohnehin jedem freigestellt sein muss, eine religiöse Feier zu besuchen, müsste gelegentlich vor jedem Gottesdienst die Frage gestellt werden, ob evtl. ein Angehöriger einer Minderheitsreligion in der Kirche (oder auch im Gebetssaal der Muslime oder in der Synagoge) sitze oder nicht, um ja keine Gefühle zu verletzten. Wenn jemand als Angehöriger einer Minderheitsreligion aus eigenem, freiem Entscheid das Gebet oder eine religiöse Feier in einer Kirche besucht, ist er zweifellos mit dem Gedankengut oder dem Glauben dieser Gemeinschaft konfrontiert und setzt sich dieser Auseinandersetzung aus. Dazu ist zweifellos eine (selbst-)bewusste Verankerung im eigenen Glauben, in der eigenen religiösen Überzeugung notwendig (die vielleicht nicht nur bei Kindern noch nicht so stark herausgebildet ist). Dennoch kann es nicht angehen, dass religiöse Gemeinschaften nun ihre traditionellen Gebete oder ihr Liedgut aus notabene völlig falsch verstandener Rücksicht auf Minderheiten «anpassen». Zumal an Weihnachten, dem Feiertag, an welchem die Christenheit die Geburt Jesu begeht, unabhängig davon, welche Lieder in der Kirche gesungen werden (oder nicht) und auch unabhängig davon, ob inzwischen und seit Jahrzehnten längst viele Hindus, Buddhisten, Muslime und Juden unter uns leben und im täglichen Leben mit den Feiertagen, den Bräuchen und letztlich (allein durch die Musikerinnen und Musiker der Heilsarmee) mit dem Liedgut der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert werden, sich auseinandersetzen müssen und sollen. Die Rücksicht auf Minderheiten ist ein absolut unschätzbares Gut, aber man sollte dafür nicht «das (Jesus-)Kind mit dem Bade ausschütten».

Text von Martin Dreyfus,
ehem. GMS-Vorstandsmitglied

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Ende November ging die Nachricht durch die Medien, dass an einer Schule im Sankt Gallischen Wil drei Weihnachtslieder an der (traditionellen) Weihnachts- bzw. Adventsfeier der Schule vom 20. Dezember nicht mehr gesungen würden, um die religiösen Gefühle von «Andersgläubigen» nicht zu verletzen, weil in diesen Liedern die Geburt Jesu unter anderem als «S grööschte Gschänk» thematisiert würde.

Laut Medienbericht sei in früheren Jahren von verschiedener Seite Kritik an der Liedauswahl laut geworden, da sich inzwischen mehr Angehörige von nicht-christlichen Religionen als Christinnen und Christen in der Kirche befänden.

Vor wenigen Jahren hat sich die GMS in einem Standpunkt gegen die Verurteilung eines muslimischen Vaters gewendet, welcher eines seiner Kinder nicht am Weihnachtssingen in der Kirche teilnehmen lassen wollte und sich damals (wie heute) auf den Standpunkt gestellt, dass es einem (nicht-christlichen) Kind und dessen Eltern allein auf Grund der verfassungsmässigen Religionsfreiheit freizustellen ist, ob das Kind und/oder die Eltern an einer religiösen Feier in der Kirche teilnehmen wollen oder nicht. Alles andere, jeder Zwang zur Teilnahme an einer religiösen Zeremonie ‒ auch wenn das Gesetz zum selbstverständlich sinnvollen «Zwang» zum Schulbesuch es anders vorsieht ‒ verstösst gegen die absolut höher zu gewichtende, verfassungsmässig garantierte Religions- bzw. Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Dies gesagt, gilt es nun allerdings ebenso sich dagegen zu verwahren, dass aus (vermeintlicher) «Rücksicht» auf Nichtchristen gewisse Lieder anlässlich einer Advents- oder Weihnachtsfeier nicht mehr gesungen werden sollten. Einmal abgesehen davon, dass es ohnehin jedem freigestellt sein muss, eine religiöse Feier zu besuchen, müsste gelegentlich vor jedem Gottesdienst die Frage gestellt werden, ob evtl. ein Angehöriger einer Minderheitsreligion in der Kirche (oder auch im Gebetssaal der Muslime oder in der Synagoge) sitze oder nicht, um ja keine Gefühle zu verletzten. Wenn jemand als Angehöriger einer Minderheitsreligion aus eigenem, freiem Entscheid das Gebet oder eine religiöse Feier in einer Kirche besucht, ist er zweifellos mit dem Gedankengut oder dem Glauben dieser Gemeinschaft konfrontiert und setzt sich dieser Auseinandersetzung aus. Dazu ist zweifellos eine (selbst-)bewusste Verankerung im eigenen Glauben, in der eigenen religiösen Überzeugung notwendig (die vielleicht nicht nur bei Kindern noch nicht so stark herausgebildet ist). Dennoch kann es nicht angehen, dass religiöse Gemeinschaften nun ihre traditionellen Gebete oder ihr Liedgut aus notabene völlig falsch verstandener Rücksicht auf Minderheiten «anpassen». Zumal an Weihnachten, dem Feiertag, an welchem die Christenheit die Geburt Jesu begeht, unabhängig davon, welche Lieder in der Kirche gesungen werden (oder nicht) und auch unabhängig davon, ob inzwischen und seit Jahrzehnten längst viele Hindus, Buddhisten, Muslime und Juden unter uns leben und im täglichen Leben mit den Feiertagen, den Bräuchen und letztlich (allein durch die Musikerinnen und Musiker der Heilsarmee) mit dem Liedgut der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert werden, sich auseinandersetzen müssen und sollen. Die Rücksicht auf Minderheiten ist ein absolut unschätzbares Gut, aber man sollte dafür nicht «das (Jesus-)Kind mit dem Bade ausschütten».

Text von Martin Dreyfus,
ehem. GMS-Vorstandsmitglied

Standpunkte

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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