Am 3. Dezember 2019 lud die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus zusammen mit der GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz zum Abschluss des Reformationsjahres 1519/2019 ein zur Veranstaltung mit dem Thema «Juden, hebräische Bibel und Anti-Judaismus in der Reformationszeit – und heute?». Die gut besuchte Veranstaltung fand in der Kapelle des Zürcher Kulturhauses Helferei statt. Dabei sollte vor allem die Stadt Zürich als «Zwingli-Stadt» und ihr Erbe in Bezug auf den Umgang der Reformation mit Andersgläubigen und speziell mit dem Judentum damals sowie heute genauer beleuchtet werden.

Michael Bischof, Leiter Integrationsförderung der Stadt Zürich, richtete ein Grusswort an die Anwesenden und stimmte auf die Thematik ein. Auf dem Podium waren Prof. Dr. em. Jacques Picard (Historiker Universität Basel), Pfarrer Prof. Dr. theol. Christoph Sigrist (Präsident der GMS und Pfarrer des Grossmünsters) sowie lic. phil. Peter Niederhäuser (Historiker und Schriftsteller). Olivia Röllin (Moderatorin «Sternstunde Religion» SRF) leitete das Gespräch.

Zu Beginn der Podiumsdiskussion ging es vor allem um die Frage, ob und inwiefern Zwingli und/oder Luther und später Bullinger «Antisemiten» waren. Dabei kristallisierte sich der Unterschied zwischen Antisemitismus und Antijudaismus heraus: Antijudaismus bezeichnet ein Konzept einer religiösen und theologisch motivierten Judenfeindschaft. Die antijüdische Tradition des Christentums geht auf die konflikthafte Ablösung der frühen Christen vom Judentum zurück. Antisemitismus hingegen beschreibt auf einem Rassengedanken beruhende soziale, religiöse und kulturelle Vorurteile und feindselige Handlungen gegen jüdische Personen sowie judenfeindliche Ideologien. Dabei handelt es sich um eine sprachliche Neubildung aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. (vgl. GRA-Glossar)

Wie die angeregte Diskussion zeigte, kann zumindest Zwingli nicht als anti-jüdisch bezeichnet werden. Gewisse jüdische Stereotypen und Feindbilder gab es dennoch und dies, obschon in den mittelalterlichen Städten fast keine Jüdinnen und Juden (mehr) lebten; ein Phänomen, dass auch gemäss der heutigen Definition von Antisemitismus gilt. Antijudaismus und Antisemitismus funktionieren ohne reale Menschen. Sie bauen auf Vorstellungen über «Juden» auf und funktionieren unabhängig vom Verhalten jüdischer Menschen. Eine der wenigen Kontakte, welche Zwingli zu dieser Zeit mit jüdischen Gläubigen hatte, war in Zusammenhang mit der Übersetzung bzw. Auseinandersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen und allgemein altbiblischen Texten, da die hebräischen Fassungen – nach reformatorischer Auffassung – näher an Gottes Wort sind. Zwingli berief sich mehrheitlich auf das Neue Testament und propagierte anhand der Bundestheologie schon damals den interreligiösen Dialog, wonach Minderheiten miteingeschlossen werden sollten. Aus Sicht von Christoph Sigrist konnte Zwingli daher sogar als revolutionär für seine Zeit bezeichnet werden.

Doch welche Lehren können aus diesen Folgerungen für die Zukunft gezogen werden? Wie ist das Verhältnis zwischen den Religionen heute?

Die Diskussion zeigte auf, dass religiöse Bewegungen wie bspw. die Reformation leider auch Schatten werfen und oft auch mit Abgrenzungsmechanismen zusammenhängen; die Ausgrenzungsproblematik war damals wie heute vorhanden. Die Auseinandersetzung mit eben auch solchen Schattenseiten und der Geschichte im Allgemeinen soll helfen, Licht in dieses Kapitel der Geschichte zu bringen. Ein Podiumsteilnehmer hielt treffend fest: «Die Begegnung mit anderen Minderheiten führt einem einen Spiegel vor Augen und dadurch rücken Menschen ins Blickfeld, für die man vorhin einen blinden Fleck hatte.»

Romilda Bucher

GMS-Standpunkt 2020.01: Reformation und Antijudaismus

Am 9. Februar wird das Schweizer Stimmvolk über die Erweiterung der Anti-Rassismus-Strafnorm abstimmen. Neu soll auch der Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung Eingang in Art. 261bis StGB finden. Heute schützt das Strafrecht die Menschen in der Schweiz vor Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Religion oder der Ethnie. Bundesrat und Parlament wollen nun die Anti-Rassismus-Strafnorm stärken und verbieten, Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung zu diskriminieren. Wer deswegen zu Hass aufruft oder Propaganda verbreitet, soll ebenfalls bestraft werden können. Solche Handlungen werden dann bestraft, wenn sie in der Öffentlichkeit verübt werden, wenn sie Menschen absichtlich herabsetzen und wenn sie gegen die Menschenwürde verstossen.

Laut Referendumskomitee würde die neue Regelung die Meinungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger einschränken und der Zensur Auftrieb geben. Stimmt dies?

Mit der durch das Stimmvolk angenommenen und 1995 eingeführten Rassismus-Strafnorm wurde eine Schutzmassnahme vor Diskriminierung geschaffen. Über die Jahre hat sich in der Schweiz dabei eine äusserst restriktive Rechtsprechung entwickelt; auch heute findet die Strafnorm nur in engem Rahmen Anwendung: Diskriminierendes Verhalten ist nur dann strafbar, wenn es die Menschenwürde verletzt und herabwürdigt. Das ist der Fall, wenn gewissen Personen grundlegende Rechte abgesprochen oder sie als minderwertig bezeichnet oder behandelt werden. Die Gerichte messen der Meinungsäusserungsfreiheit folglich grosses Gewicht bei und wenden die Anti-Rassismus-Strafnorm zurückhaltend an.

Sachliche Meinungsäusserungen bleiben also weiterhin möglich, sogar dann, wenn sie provokativ oder übertrieben formuliert sind. Denn in einer Demokratie soll Kritik erlaubt sein, namentlich in politischen Diskussionen. Ebenso können religiöse Ansichten geäussert und verschiedene Wertvorstellungen thematisiert werden. Selbst provokative Bemerkungen, Karikaturen und Witze sind nicht diskriminierend und werden aufgrund der erweiterten Strafnorm nicht bestraft – solange sie die Menschenwürde nicht verletzen. Verboten ist lediglich, was den Kern der Menschenwürde grob verletzt. Strafbar sind einzig Aufrufe zu Hass, Diskriminierung und die Herabsetzung von Personen oder Personengruppen.

Zudem sind in unserer Rechtsordnung Einschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit nicht nur üblich, sie gehen zu einem erheblichen Teil auch deutlich weiter als diejenigen von Art. 261bis StGB.

Die Menschenwürde ist ein fundamentaler Wert unserer Gesellschaft. Die Demokratie lebt vom respektvollen und würdevollen Umgang der Menschen miteinander. Diskriminierung und öffentlich formulierter Hass gefährden das friedliche Zusammenleben und haben in einer freiheitlichen und toleranten Gesellschaft keinen Platz.

Die Meinungsfreiheit bleibt somit gewahrt: Es ist und bleibt weiterhin möglich, kritische Meinungen zu äussern und sachliche öffentliche Diskussionen und Debatten zu führen. Ein Urteil wegen eines Verstosses gegen die Anti-Rassismus-Strafnorm wird nicht leichtfertig ausgesprochen.

Aus all diesen Gründen unterstützen die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz die Erweiterung von Artikel 261bis StGB und empfehlen ein «Ja!» zum Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung.

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

Der Standpunkt als PDF

Mehr erfahren
Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz
Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz
Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz
Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz
Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz