Eigentlich hätte diese Initiative am 17. Mai 2020 zur Abstimmung kommen sollen. Wegen der Corona-Krise wurde der Urnengang abgesagt. Die Abstimmung soll zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden, wahrscheinlich im September.

 

Die Initiative will die Personenfreizügigkeit mit der EU beenden und ihre Annahme hätte zur Folge, dass die Bilateralen Verträge mit der EU gekündigt werden müssten. Das einvernehmliche Verhältnis der Schweiz mit der Europäischen Union steht also mit dieser Initiative auf dem Spiel. Damit würde die Schweiz auf einen Pfad der Abschottung gezwungen, der nichts Gutes für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft bedeuten würde, sowohl hier in der Schweiz wie auch zwischen der Schweiz und Europa.

 

Die Vorboten dieser Abschottung finden sich in den Argumenten der Befürworter der Initiative. Die Hauptbotschaft lautet: die SchweizerInnen leiden unter den Zugewanderten, diese sind die Sündenböcke für alles, was von den Initianten als negativ empfunden wird: überfüllte Züge und Strassen, die Gefährdung von Arbeitsplätzen für ältere Personen, knapper und teurer Wohnraum, steigende Mieten und Hauspreise, zubetonierte Landschaft, überfüllte Schulen, unsicherer öffentlicher Raum, Gewalt gegen Frauen, steigende Sozialhilfeausgaben. Obwohl die SVP sich bisher weder für die Anliegen der Mieterinnen und Mieter, für die Gleichstellung der Frauen, für einen gut ausgebauten öffentlichen Verkehr, noch für ein starkes Sozialwesen stark gemacht hat – im Gegenteil – missbraucht sie alle diese Themen, um gegen die «Fremden» Stimmung zu machen. Selbst das Artensterben wird den Zugewanderten in die Schuhe geschoben. Die Partei hat sich zwar noch nie für den Umweltschutz stark gemacht und leugnet sogar den Klimawandel, aber in ihrem Hass auf alles Fremde ist ihr sogar das «grosse Sterben der Insekten» gut genug, um damit gegen die Zugewanderten zu polemisieren.

 

Die ganze Argumentationskette ist zutiefst fremdenfeindlich, sie verstärkt ganz bewusst eine negative Einstellung gegenüber allem als Unschweizerisch empfundenem. Die Opfer dieser Polemik und Unterstellungen sind Zugewanderte, Dunkelhäutige, Anderssprachige, Andersgläubige. Und da sich die GMS stark macht für die Minderheiten in der Schweiz, ist es klar, dass sie diese Initiative bekämpft. Letztere will bewusst eine Mauer zwischen uns und den «andern» errichten, sie will Privilegien ausschliesslich für SchweizerInnen. Das alles widerspricht zutiefst all dem, wofür sich die GMS stark macht. Unser Slogan lautet nicht umsonst: «Die Stärke einer Gesellschaft misst sich am Wohl der Schwachen.» Wir setzen uns für Leben, Recht, Kultur und Integration alter und neuer Minderheiten in der Schweiz ein, in dieser Denkweise hat eine SVP-Begrenzungsinitiative keinen Platz.

Hier jetzt zum Standpunkt.

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

Der Standpunkt als PDF

Mehr erfahren
Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz
Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz
Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz
Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz
Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz