Die jüngsten Fälle von Polizeigewalt an Afroamerikaner*innen in den Vereinigten Staaten erschüttern die Welt. Erstmals werden die schrecklichen Morde, etwa an George Floyd oder Ahmaud Arbery, auf Video aufgezeichnet und so sichtbar gemacht. Unverhältnismässige Polizeigewalt an Menschen mit dunkler Hautfarbe ist in den USA allerdings kein neues Thema. Zusammen mit weiteren Erscheinungsformen strukturellen und systemischen Rassismus ist dies Ausfluss einer jahrhundertlangen Geschichte von Kolonialismus, Sklaverei und Segregation. Die systematische und legalisierte Unterdrückung von People of Color zu Gunsten von weissen Privilegien hat noch heute Auswirkungen, sei es etwa durch breite Chancenungleichheit oder sonstige Benachteiligungen und Diskriminierungen. Obwohl die Black Lives Matter Bewegung bereits vor sieben Jahren ins Leben gerufen wurde, hat Polizeigewalt an Menschen mit dunkler Hautfarbe in Amerika sogar noch zugenommen.

Die GMS zeigt Solidarität mit Black Lives Matter und verurteilen die Ereignisse in den USA auf das Höchste. Polizeigewalt, struktureller und systemischer Rassismus sind jedoch nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa und der Schweiz gegenwärtig. Die Schweiz hat ihre eigene politische und gesellschaftliche Realität, in der Rassismus gegen People of Color und andere Minderheiten leider auch ein Thema ist. Der Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR und humanrights.ch zu Rassismusfällen aus der Beratungspraxis meldet für das Jahr 2019 insgesamt 352 Beratungsfälle. Es versteht sich von selbst, dass diese Fälle nur die «Spitze des Eisbergs» der rassistischen Vorfälle in der Schweiz darstellen. Der Bericht verdeutlicht, dass auch in der Schweiz Rassismus gegen Schwarze (132 Fälle) neben dem generellen Motiv Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit (145 Fälle) das meist genannte Diskriminierungsmotiv ist. Darauf folgt das Motiv der Muslimfeindlichkeit mit 55 Fällen. Auch der Rassismusbericht der GRA bestätigt diese Einschätzung: In der Mehrheit der von der GRA registrierten rassistischen Vorfälle wurden dunkelhäutige Menschen sowie Musliminnen und Muslime beschimpft, benachteiligt oder bedroht. Im letzten Jahr wurde ausserdem eine Zunahme rechtsextremer Vorfälle festgestellt, wobei es bis zu verbalen und physischen Übergriffen auf einen Schwarzen Jugendlichen gekommen ist.

 

Auch die Schweiz verzeichnet Fälle übermässiger Polizeigewalt an Menschen mit dunkler Hautfarbe. So sind zwischen 2016 und 2018 drei Fälle bekannt, in denen dunkelhäutige Personen den Folgen von unverhältnismässiger Polizeigewalt erlagen. Die Untersuchungen der Vorfälle sind derzeit noch am Laufen. Häufiger als übermässige Polizeigewalt sind jedoch Fälle von Racial Profiling (diskriminierende, verdachtsunabhängige Kontrolle durch Polizei, Bahnpolizei oder Grenzwachtkorps einzig oder primär aufgrund gruppenspezifischer Merkmale wie Hautfarbe, Sprache, Religion oder ethnischer Herkunft). Solche Kontrollen werden von den betroffenen Personen häufig als demütigend empfunden. Obwohl die Kantone Bern, Basel und Zürich bereits Massnahmen zur Überwachung von Racial Profiling durch die Polizei ergriffen haben, gibt es in der Schweiz noch zu wenig Unterstützung für Betroffene von Racial Profiling.

 

Rassismus tritt jedoch nicht nur in Form von Polizeigewalt oder Racial Profiling auf, sondern hat vielfältige, nicht minder verletzende Erscheinungsformen. Subtiler, unterschwelliger Rassismus schlummert im Alltag. So muss eine Person möglicherweise merken, dass sie wegen ihrer Hautfarbe oder wegen ihres «ausländisch» klingenden Namens Schwierigkeiten auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt hat. Wie der Bericht der EKR aufzeigt, findet rassistische Diskriminierung am meisten in der Öffentlichkeit oder in der Arbeitswelt statt. Doch auch in der Schule, in der Nachbarschaft, im öffentlichen Verkehr, in der Freizeit oder in der öffentlichen Verwaltung findet sich struktureller und systemischer Rassismus wieder. So werden etwa Menschen wegen ihres Aussehens bei einem Behördenbesuch unfreundlicher und schlechter behandelt. Auch sehr subtile Formen von Rassismus sind verletzend, etwa wenn der Platz neben einem People of Color im Bus frei bleibt, obwohl alle anderen Plätze besetzt sind.

 

Für die GMS stellt jeder Angriff auf eine Minderheit auch ein Angriff auf die demokratischen Werte unserer Gesellschaft dar. Genauso wie in den USA gilt auch in der Schweiz, dass von Rassismus Betroffenen Menschen der Zugang zu Gerechtigkeit ermöglicht und erleichtert werden muss. Leider fehlen auch in der Schweiz immer noch stellenweise langfristige Strategien zur Umsetzung des Diskriminierungsschutzes. Es muss unbedingt in Ausbildung, Sensibilisierung und Prävention investiert werden. Wichtig ist, dass ein offener und sachlicher Dialog geführt und gefördert wird. Ein Beispiel für einen solchen Dialog ist etwa der Runde Tisch gegen Rassismus der Stadtpolizei Zürich, an dem die GMS und die GRA regelmässig teilnehmen. Am Runden Tisch werden unter anderem Lösungen für die Bekämpfung von Racial Profiling diskutiert und Begegnungsmöglichkeiten zwischen Interessensgruppen geschaffen.

 

Welchen Beitrag kann ich als Mitglied der Gesellschaft leisten, um Rassismus den Kampf anzusagen? Hier, einige Vorschläge:

  • Betroffenen zuhören und Raum lassen
  • Empathie zeigen
  • Mich informieren
  • Selbstreflexion: Eigenes Verhalten hinterfragen, eigene Vorurteile erkennen und abbauen. Verantwortungsvoll und aktiv entscheiden, wie mit Stereotypen umzugehen ist und was ich dagegen tun kann

Ansprechen, aufzeigen und verurteilen: Zivilcourage zeigen und vorbildlich handeln, besonders bei Alltagsrassismus. Zum Beispiel eine Aussage oder Reaktion hinterfragen und für Minderheiten (Mitmenschen!) einstehen.

 

Standpunkte

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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