In der Schweiz soll niemand in der Öffentlichkeit sein Gesicht verhüllen und niemand eine Person zwingen dürfen, ihr Gesicht aufgrund ihres Geschlechts zu verhüllen. Das fordert die Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot», welche von SVP-nahen Kreisen eingereicht und vom Parlament und Bundesrat in der Sommersession zur Ablehnung empfohlen wurde. Darüber wird es bald eine Volksabstimmung geben.

Der Gegenvorschlag zur sogenannten Burka-Initiative sieht vor, dass alle, die sich im öffentlichen Verkehr oder bei Behörden identifizieren müssen, die gesetzliche Pflicht haben, das Gesicht zu zeigen. Er fand in beiden Räten eine Mehrheit, kommt als indirekter Gegenvorschlag aber nicht zur Abstimmung.

Das Egerkinger Komitee um den SVP-Nationalrat Walter Wobmann zielt mit der Burka-Initiative nach der Minarettverbotsinitiative zum zweiten Mal auf die muslimische Gemeinschaft in der Schweiz. Diesmal geschieht es im Namen der Geschlechtergleichheit. Denn die Burka wird, wenn überhaupt, ausschliesslich von muslimischen Frauen getragen. Es wird auf ein augenfälliges und mit viel Symbolik aufgeladenes Kleidungsstück gezielt, statt dass über die Hintergründe von Diskriminierung und Ausschluss aufgrund des Geschlechts oder der kulturellen und religiösen Herkunft gesprochen wird. Es wird eine Stellvertreterdebatte geführt, die sich gegen «den Islam» in unserer Gesellschaft richtet. Statt Integrationsschranken beim Zugang zu Bildung, Arbeit und politischen Rechten abzubauen, reden die InitiantInnen lieber von einer angeblichen Integrationsunwilligkeit und Integrationsunfähigkeit der muslimischen Bevölkerung. Sie orten das Problem im Islam, der mit unseren westlichen Werten inkompatibel sei. Es wird ein einseitiges und pauschales Bild eines patriarchalischen und frauenfeindlichen Islam gezeichnet, was gerade in der Schweiz so nicht der Realität entspricht.

Wenn es den Initianten wirklich um die Würde der Frau ginge, müsste es ihnen aber um die Würde aller Frauen in unserer Gesellschaft gehen. Sie haben sich aber nie für feministische Kampagnen gegen Sexismus in der Werbung, gegen die Pornografisierung von Frauenkörpern zu Werbezwecken oder für griffige Gesetze gegen den Frauenhandel stark gemacht. Pauschal von der Unterdrückung muslimischer Frauen auszugehen, wie dies das Egerkinger Komitee tut, ist Ausdruck eines Paternalismus, der den muslimischen Frauen keinerlei Handlungsmacht zuspricht. Zudem wird mit dem Burka-Verbot ein neues «Sondergesetz» für Musliminnen geschaffen.

Die GMS propagiert das Tragen einer Burka in keiner Weise, weil sie die Freiheit der Frauen einschränkt. Es ist für die GMS auch ganz klar, dass keine Frau zur Verhüllung gezwungen werden darf. Wenn aber eine Frau, die hier lebt, entscheidet, dass sie sich, aus welchen Motiven auch immer, verschleiern will, dann muss unsere freiheitliche Rechtsordnung das zulassen. Der Staat darf nicht das Tragen bestimmter Kleidungsstücke verbieten und damit in die persönliche Freiheit der Menschen eingreifen. Die Initiative fokussiert zudem auf ein Problem, das in der Schweiz kaum existiert, verstärkt aber die Vorurteile gegen muslimische Gruppen und fördert ein Klima der Intoleranz. Deshalb leiden religiöse Minderheiten oft an Ausgrenzung und Diskriminierung. Die umfassende Durchsetzung der Religionsfreiheit ist für alle gläubigen Menschen von grundlegender Bedeutung. Selbstverständlich aber müssen sich alle Religionen an der Respektierung der Menschen- und Frauenrechte messen lassen. Gerade was die Umsetzung der Frauenrechte anbelangt, sind die meisten Religionen schwer im Verzug.

Die GMS kämpft gegen die Instrumentalisierung von Frauenrechten als emotionale Mobilisierungsstrategie für eine fremdenfeindliche Politik. Wir unterstützen Massnahmen, die das Selbstbestimmungsrecht von Frauen im Allgemeinen und der Migrantinnen im Besonderen schützen und fördern, sowie die Diskriminierung von religiösen und anderen Minderheiten beheben. Da die Burka-Initiative all diesen Bemühungen zuwiderläuft, bekämpft sie die GMS, wie das alle anderen Schweizer Menschenrechtsorganisationen auch tun.

Standpunkte

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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