Sans-Papiers sind Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Entweder wurde ihr Asylgesuch rechtskräftig abgelehnt oder sie haben ihre Aufenthaltsbewilligung verloren. Es gibt auch Sans-Papiers, die nie ein Asylgesuch gestellt haben oder eine Arbeitsbewilligung hatten. Im Auftrag des Amtes für Wirtschaft und Arbeit und des Amtes für Migration des Kantons Zürich haben die beiden Beratungsbüros ECO-Plan und KEK-Beratung dieses Jahr eine Studie über Sans-Papiers im Kanton Zürich durchgeführt, gemäss dieser leben schätzungsweise bis zu 24’900 Sans-Papiers im Kanton Zürich.

Während des Lockdowns hat sich die Lebenssituation der Sans-Papiers massiv verschlechtert und ihre ohnehin vielfältigen Probleme wurden sichtbarer und grösser. Die negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Sans-Papiers verfestigten sich in den verschiedenen Lebensbereichen:

 

Einkommensverlust

Viele Sans-Papiers waren in Privathaushalten und in prekären Arbeitsverhältnissen tätig. Die meisten Arbeitgeber wollen wegen der Pandemie keine Risiken eingehen. Durch den Lockdown und die Arbeit im Homeoffice haben viele ihre Arbeit verloren. Dadurch haben sie kein Einkommen mehr, und auch keinen Anspruch auf Sozial- oder Arbeitslosenhilfe. Von einem Tag auf den anderen haben sie ihre Existenzgrundlage verloren.

 

Soziale Isolation

Sans-Papiers leben am Rande der Gesellschaft, sie gehen möglichst unauffällig von zu Hause zur Arbeit und umgekehrt. Freizeitaktivitäten bergen das Risiko, entdeckt und ausgeschafft zu werden und werden deshalb selten praktiziert. Wegen der Pandemie werden an vielen Orten die Besucher*innen registriert, was für Sans-Papiers nicht möglich ist, da sie unerkannt bleiben müssen oder sich nicht ausweisen können. Das bedeutet, überall ausgeschlossen zu sein.

 

Ausbildung (Deutschkurse)

Sans-Papiers können sich keine bezahlten Deutschkurse leisten. Sie profitieren von kostenlosen Deutschkursen in der Autonome Schule Zürich oder vom Solidaritätsnetz Zürich. Während des Lockdowns waren die Deutschkurse nur via Fernunterricht möglich. Dazu brauchte es aber Internetzugang und Computer, für viele Sans-Papiers ein unüberwindbares Hindernis.

 

Ernährung

Es gibt Sans-Papiers, die nur dank verschiedenster Hilfs-Angebote über die Runden kommen, zum Beispiel durch Lebensmittelabgaben oder Orte, an denen sie günstig essen können. Auch diese Angebote wurden während des Lockdowns geschlossen. Jetzt funktionieren zwar einige dieser Hilfsangebote wieder, aber der Zugang zu Lebensmitteln ist immer noch schwieriger als vor der Pandemie.

 

Mobilität

Die Kosten für die Mobilität sind für tiefe Einkommen, wie sie bei Sans-Papiers üblich sind, relativ hoch. Neu kommt die Pflicht dazu, Masken zu tragen. Das ist mit zusätzlichen Kosten verbunden und schränkt dadurch die Mobilität der Sans-Papiers noch mehr ein.

 

Gesundheit

Viele Sans-Papiers haben keine Krankenkasse und können so in der Regel keinen Arzt aufsuchen. Bei einem Coronatest aber müssten sie sich ausweisen können. Da das nicht möglich ist, können sie sich auch nicht testen lassen, auch wenn sie Symptome aufweisen.

 

Hilfsangebote für Sans-Papiers

Glücklicherweise gab es während des Lockdowns neue Projekte, wie das Projekt «Essen für Alle». Dank diesem können Menschen in Not einmal wöchentlich ein Paket mit Grundnahrungsmitteln und Gemüse beziehen. Es enthält Öl, Reis, Mehl, Kartoffeln, Zwiebeln und Tomatensaft, zusätzlich werden Gemüse und Früchte abgegeben.

Die Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich SPAZ hat während des Lockdowns neben dem üblichen Unterstützungsangebot mit Hilfe von Spendengeldern die Kosten für Mieten und Krankenkassen übernommen. Auch unterstützten sie Sans-Papiers, falls sie Notfallbehandlungen brauchten.

In der Autonomen Schule können Sans-Papiers alle angebotenen Kurse besuchen. Dazu gehören verschiedene Sportangebote und Sprachkurse.

Daneben unterstützen das Schweizerische Rote Kreuz, die Caritas, das Sozialwerk Pfarrer Sieber und andere Hilfswerke die Sans-Papiers mit kleinen Geldbeiträgen, Kleidern, Lebensmitteln und Übernachtungsangeboten. Trotz dieser grossen Solidarität bleibt die Situation für Sans-Papiers aber sehr schwierig und viele leben in äusserst prekären Verhältnissen.

 

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Standpunkte

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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