Je länger die globale Gesundheitskrise andauert, desto ungeduldiger und missmutiger werden viele Menschen, vor allem in dieser sonst so besinnlichen Jahreszeit. Während im Frühling noch dem Pflegepersonal applaudiert wurde und man von Solidarität und Zusammenhalt sprach, hat sich das Blatt gewendet. Die Infektionszahlen steigen wieder, Politikerinnen und Politiker schieben sich gegenseitig die Schuld zu und die Stimmung in der Bevölkerung wird zunehmend gereizter.

Dass sich diese Situation für parteipolitische Interessen instrumentalisieren lässt, zeigt die lebhaft geführte Debatte darüber, wer Schuld an der Misere hat. Klar ist, dass es wohl viele Versäumnisse gegeben hat in den letzten Wochen. Doch statt sich darauf zu fokussieren, diese Fehler zu beheben, fällt es Einigen leichter, die Ursache des Problems auf gewisse Bevölkerungsgruppen abzuschieben – zum Beispiel auf die Ausländer.

Die haltlosen Aussagen, dass Menschen mit Migrationshintergrund die Treiber der Pandemie seien, stammen aus einem Artikel der Basler Zeitung von Anfang Dezember. Die Zeitung berichtete anhand anonymer Quellen von einem überproportional hohen Anteil Migrantinnen und Migranten in Spitalpflege. Prompt wurde in der Schweizer Medienlandschaft darüber diskutiert, inwiefern solche Spekulationen angebracht seien. Selbst Bundesrat Alain Berset musste Stellung beziehen.

Viel weniger Beachtung erhielt jedoch die Tatsache, dass die bewusste Stimmungsmache von schmarotzenden Ausländern, die in die Schweiz einreisen, um vom hiesigen Gesundheitswesen zu profitieren aufgrund schlampiger Recherche entstand. Die Verbreitung solcher Narrative liefert den perfekten Nährboden für Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung gegen Menschen mit (vermeintlichem) Migrationshintergrund. So erstaunt es kaum, dass es seit dem Auftauchen des Virus vermehrt zu rassistischen Anfeindungen gegenüber Personen mit asiatischem Hintergrund kommt.

Appell an die Medienschaffenden

Diese traurigen Beispiele zeigen: während einer globalen Krise sollte man sich bei Diskussionen zwingend auf Fakten statt ungeprüfter und subjektiver Spekulationen beziehen. Gerade Medienschaffende sollten sich hier ihrer Verantwortung bewusst sein. Denn trotz des irreführenden Titels des Artikels in der BaZ, wurde bei der Lektüre schnell klar: es handelt sich bei den vermeintlich Pflegebedürftigen nicht um Migrantinnen und Migranten, sondern um Menschen mit Migrationshintergrund. Ein Migrant oder eine Migrantin ist ein Mensch, der in ein anderes Land oder eine andere Region ein – oder auswandert. Ein Mensch mit Migrationshintergrund hingegen muss nicht zwingend eigene Migrationserfahrung gemacht haben. Der Bund spricht auch bei jenen Menschen von einem Migrationshintergrund, bei denen ein Elternteil im Ausland geboren wurde. Eine Person mit Migrationshintergrund kann also in der Schweiz geboren und aufgewachsen sein, perfekt Schweizerdeutsch sprechen und den Schweizer Pass besitzen. Laut Bundesamt für Statistik wiesen 2019 fast 38% der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz ab 15 Jahren einen Migrationshintergrund auf.

Die Frage nach dem Warum

Sollte es tatsächlich stimmen, dass vor allem MigrantInnen und Menschen mit Migrationshintergrund auf den Schweizer Intensivstationen anzutreffen sind, stellt sich viel eher die Frage nach dem warum. So ist es nachgewiesen, dass engere Wohnverhältnisse die Verbreitung des Virus begünstigen. Auch muss beachtet werden, dass viele Menschen mit Migrationshintergrund in eben jenen «systemrelevanten» Jobs arbeiten, denen nicht von zu Hause aus nachgegangen werden kann. Statt diesen Menschen fehlende Disziplin oder Solidarität anzulasten, sollte die Politik sich also eher fragen, welche Teile der Bevölkerung dem Virus besonders ausgesetzt sind und daher besonderen Schutz brauchen. Nicht nur kann damit die Ausbreitung dieses tödlichen Virus eingedämmt werden. Sondern es werden die Menschen, die sowieso schon unter struktureller Benachteiligung leiden, nicht noch zusätzlich stigmatisiert. Denn sie verdienen wahrhaft mehr als unseren Applaus.

GMS Standpunkt_Die Mär vom schmarotzenden Migranten

Standpunkte

Die Coronapandemie stellt die Welt vor nie dagewesene Herausforderungen. Die anhaltende Verunsicherung und die ökonomischen Folgen haben direkte Auswirkungen auf unser Zusammenleben – auch bei der jüdischen Bevölkerung der Schweiz.

Verschwörungsfantasien – ein altes Gespenst in neuem Deckmantel
Neben den religiösen Einschränkungen, die die Pandemie mit sich bringt, sind es vor allem zwei Entwicklungen, die den Jüdinnen und Juden in der Schweiz Sorge bereiten. Einerseits sind da die immer populärer werdenden Verschwörungsfantasien. Viele von ihnen verfolgen ein antisemitisches Narrativ einer heimlichen (oftmals jüdischen) Elite, die das Weltgeschehen hinter den Kulissen steuert. Laut einer aktuellen Studie der ZHAW sind bis zu 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung empfänglich für solche Erzählungen.

Doch wieso glauben die Menschen in Zeiten von Wissenschaft und Aufklärung an solche Fantasien? Verschwörungserzählungen liefern simple Erklärungen für komplexe globale Phänomene und vermitteln dadurch ein Gefühl der Kontrolle in Zeiten grosser Unsicherheit. Als Teil dieser simplifizierten Weltansicht identifizieren Verschwörungsfantasien oft eine kleine, überschaubare Gruppe als Auslöser und Profiteure der Krise. Denn erst wenn die Krise erklärt und ein Sündenbock gefunden wurde, kann sich die breite Masse gegen diese zur Wehr setzen – so die Vorstellung. Bereits im Mittelalter, als die Pest in ganz Europa wütete, beschuldigte man beispielsweise die jüdische Bevölkerung, die Brunnen vergiftet zu haben, was zu Pogromen führte – auch in der Schweiz, wo zahlreiche jüdische Gemeinden ausgelöscht wurden. Diese Verschwörungsmythen halten sich über Jahrhunderte in der Gesellschaft. So erstaunt es kaum, dass die 1903 erschienene fiktive Erzählung der “Protokolle der Weisen von Zion” in dutzende Sprachen übersetzt wurde und auch nach 100 Jahren noch als wirkungsvolles Mittel antisemitischer Hetze dient.

Seit dem Ausbruch der Corona-Krise sind ähnliche Muster erkennbar. Juden werden für die Verbreitung des Virus verantwortlich gemacht und der Irrglaube verbreitet, dass diese persönlich von der Krise profitieren würden. Oftmals kommen dabei auch andere uralte Verschwörungsmythen zu Tage. Bestes Beispiel dafür ist die QAnon-Bewegung aus den USA, die unterdessen auch in der Schweiz eine wachsende Anhängerschaft geniesst. QAnons abstruse Überzeugung, eine geheime Elite versklave kleine Kinder und trinke deren Blut als Lebenselixier, lässt sich direkt aus der antisemitischen Legende der Ritualmorde ableiten.

Jeder will Anne Frank sein
Neben den Verschwörungserzählungen sind die immer zahlreicher werdenden Holocaustvergleiche ein mit Besorgnis zu beobachtender Trend in der aktuellen Krise. Ob in Zürich, Basel oder Lachen: Überall demonstrierten Menschen mit dem gelben Judenstern auf der Brust, um sich als unterdrückte Opfer der vom Staat erwirkten Corona-Massnahmen zu bezeichnen. Der Versuch, sich auf die gleiche Stufe wie verfolgte Jüdinnen und Juden während dem Nationalsozialismus zu stellen, ist nicht nur völlig absurd, sondern verhöhnt auch die Menschen, die während dem Nationalsozialismus auf systematische und vom Staat organisierte Weise ermordet wurden. Proteste gegen Restaurantschliessungen und Maskenpflicht dürfen niemals diese Katastrophe instrumentalisieren, um Menschen für die eigene Sache zu gewinnen. Auch wenn dies nicht zwingend die Absicht der Demonstrierenden ist, spielen sie mit diesen Aktionen Holocaustleugnern in die Hände, die die Gräueltaten der Nazis zu verharmlosen versuchen.

Zivilcourage ist gefragt
Bewiesenermassen bieten Verschwörungsfantasien einen optimalen Nährboden für Radikalisierung und Gewaltlegitimierung. Die Kombination von immer populärer werdenden Verschwörungstheorien und Holocaustrelativierungen ist daher ein brandgefährlicher Trend, den es genau zu beobachten gilt. Denn wenn sich erfundene Verschwörungserzählungen mit der Relativierung tatsächlich geschehener Gräueltaten vermischen, bewegen wir uns als Gesellschaft auf dünnem Eis. In dieser Situation ist jeder einzelne in der Pflicht, mit Zivilcourage und Engagement ein Zeichen gegen das Vergessen und für faktenbasierte Argumentation zu setzen.

GMS Standpunkt: Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Sans-Papiers in Zürich (als PDF)

Standpunkte

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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