Der neue Standbericht 2021 der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende zeigt auf, dass in der Schweiz die Lage der Halteplätze nach wie vor prekär ist und sich in den letzten Jahren kaum verbessert hat, obwohl immer wieder auf den Mangel hingewiesen wird.

 

Gemäss dem Standbericht haben zwischen 2000 und 3000 Schweizer Jenische und Sinti eine fahrende Lebensweise. Hinzu kommen ausländische Roma, die von Frühling bis Herbst ebenfalls in der Schweiz unterwegs sind. Der Standbericht erklärt, dass fahrende Jenische und Sinti 40 bis 50 Standplätze benötigen, die ihnen als fester Wohnsitz während der Wintermonate dienen. Daneben sind rund 80 Durchgangsplätze für die Reisezeit von Frühling bis Herbst nötig. Zurzeit gibt es in der Schweiz jedoch nur 16 Standplätze und nur 24 Durchgangsplätze, die zweckmässig eingerichtet sind. Somit besteht nach wie vor ein grosser Mangel an sowohl Stand- als auch Durchgangsplätzen für Schweizer Jenische und Sinti. Die Situation bei den Transitplätzen für ausländische Fahrende hat sich in den vergangenen Jahren leicht verbessert, aber auch hier besteht immer noch grosser Bedarf.

 

Der akute und andauernde Mangel an Stand- und Durchgangsplätzen muss dringend behoben werden, denn er beeinträchtigt die traditionelle Lebensweise der fahrenden Jenischen, Sinti und Roma erheblich. Das Problem liegt namentlich an konkurrierenden Nutzungsinteressen und mangelndem politischen Willen. Gemäss der Umfrage „Zusammenleben in der Schweiz“ des Bundesamts für Statistik fühlten sich 2020 rund 18% der Bevölkerung gestört an der fahrenden Lebensweise. Das ist mehr als das Störungsempfinden gegenüber anderen Gruppen. Befeuert wird diese Einstellung etwa durch stigmatisierende und einseitige Berichterstattung in den Medien. Trotzdem befürworteten 2019 circa zwei Drittel der Bevölkerung die Einrichtung von Stand- und Durchgangsplätzen für Schweizer Fahrende. Für ausländische Fahrende ist es hingegen nur knapp die Hälfte der Bevölkerung.

 

Abgesehen vom akuten Mangel an Halteplätzen erschweren kantonale Gesetzgebungen die Situation der fahrenden Gemeinschaften. So etwa die Loi sur le stationnement des communautés nomades (LSCN) im Kanton Neuchâtel. Das Gesetz regelt den Aufenthalt von Schweizer und ausländischen Fahrenden und schränkt diesen sowohl formell als auch zeitlich ein. Verschiedene Gutachten sind zum Schluss gekommen, dass sowohl das Gesetz als auch der Bundesgerichtsentscheid, der das Gesetz für rechtmässig erklärte, willkürlich und diskriminierend sind. Gesetz und Bundesgerichtsentscheid ignorieren die internationalen Verpflichtungen, welche die Schweiz im Rahmen von völkerrechtlichen Verträgen – zum Beispiel dem Europäischen Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten – eingegangen ist. Der Bundesgerichtsentscheid wurde an den UNO-Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung CERD weitergezogen und ist derzeit hängig. Die Entscheidung des CERD wird noch dieses Jahr erwartet.

 

Ein vor Kurzem veröffentlichtes Gutachten, das die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR in Auftrag gab, versucht, den rechtlichen und raumplanerischen Unsicherheiten bezüglich Halteplätzen entgegenzuwirken. Das Gutachten untersucht primär den Rechtsschutz der Fahrenden und ihrer Organisationen in Bezug auf die rechtliche Sicherung von Halteplätzen. Das Gutachten macht klar, dass die fahrenden Gemeinschaften einen verfassungs- und völkerrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung ihrer traditionellen Lebensweise haben. Dieser Gewährleistungspflicht kommen Bund, Kantone und Gemeinden zurzeit nur bedingt nach. Das Gutachten zeigt deshalb, wie auf allen Staatsebenen Anreize zur Errichtung von neuen Halteplätzen geschaffen werden können und macht entsprechende Empfehlungen.

 

Angesichts der prekären Situation in Bezug auf Halteplätze für fahrende Gemeinschaften und andauernder Diskriminierung und Stigmatisierung von Jenischen, Sinti und Roma, ruft die GMS Bund, Kantone und Gemeinden dringend dazu auf, ihren internationalen Verpflichtungen zum Schutz von (anerkannten) Minderheiten und zur Förderung der fahrenden Lebensweise nachzukommen. Zudem muss der negativen Einstellung der Bevölkerung gegenüber Jenischen, Sinti und Roma entgegengewirkt werden, wobei auch die Politik und die Medien eine grosse Rolle spielen.

 

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Standpunkte

Flyer Referat Claudia Kaufmann am 10.06.2021

Absolutes Bettelverbot: ein Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Im Januar dieses Jahres hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Urteil gefällt, das in der Schweiz für Aufsehen gesorgt hat: durch die Bestrafung einer bettelnden Roma hat die Schweiz deren Recht auf Privatleben nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Dieser Artikel sagt, dass jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat‑ und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz hat und dass eine Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen darf, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öf­fentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Das Recht auf Privatleben beinhaltet den Anspruch, die eigene Notlage zum Ausdruck zu bringen und andere um Hilfe zu bitten. Ein absolutes Bettelverbot – unabhängig von der individuellen Situation der Armutsbetroffenen – ist unverhältnismässig und verletzt die Europäische Menschenrechtskonvention.

Die Beschwerdeführerin, eine Roma aus Rumänien, verbrachte ab 2011 einige Zeit in Genf. Weil sie keine Arbeit fand, bat sie Passant*innen mehrmals um Almosen. Das Betteln auf den öffentlichen Strassen war in Genf gemäss kantonalem Strafgesetz verboten. Die Betroffene wurde deswegen vom Genfer Polizeigericht zur Zahlung einer Busse von 500 Franken verurteilt. Ihre Beschwerde gegen das Urteil wurde von der zweiten kantonalen Instanz und vom Bundesgericht abgewiesen. Schliesslich gelangte die Betroffene an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Dem Geiste der Europäischen Menschenrechtskonvention liegt das Prinzip der Menschenwürde zugrunde. Dieses hat deshalb auch für das Recht auf Privatsphäre eine Bedeutung. Wenn eine Person nicht über ausreichende Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes verfügt, ist ihre Menschenwürde ernsthaft beeinträchtigt. Durch das Betteln versucht sie, eine unmenschliche und prekäre Situation zu überwinden. Im konkreten Fall war die Beschwerdeführerin extrem arm, Analphabetin, arbeitslos, ohne Sozialhilfe oder Unterstützung durch andere Personen. Durch das Betteln konnte sie ihre Notlage und Armutssituation zumindest ein bisschen lindern. Der Gerichtshof argumentiert, indem die Genfer Behörden das Betteln generell verboten hätten, sei sie daran gehindert worden, mit anderen Personen Kontakt aufzunehmen, um Hilfe zu erhalten und ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen.

Das Recht, andere um Hilfe zu bitten, ist damit als Bestandteil des Kerngehalts von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu verstehen und auf die Beschwerde der Betroffenen anwendbar.

Die von den Behörden vorgebrachten Argumente – die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, Schutz der Rechte von Passant*innen, Anwohnenden und Geschäftsinhabenden – lässt der Gerichtshof in Anbetracht der Schutzbedürftigkeit der Beschwerdeführerin nicht gelten. Zudem habe der UNO-Sonderberichterstatter zu extremer Armut das Motiv, Armut in einer Stadt weniger sichtbar zu machen um Investitionen anzuziehen, aus menschenrechtlicher Sicht als illegitim bezeichnet. Die von den Behörden genannten Ziele stünden damit in keinem Verhältnis zur harten Bestrafung der Beschwerdeführerin, welche über keine anderen Mittel verfügte und für ihr Überleben betteln musste. Der Eingriff verletze ihre Menschenwürde und die Schweiz habe den ihr zustehenden Ermessensspielraum im vorliegenden Fall überschritten.

Schliesslich wären die Schweizer Gerichte in der Pflicht gestanden, die konkrete Situation der Beschwerdeführerin gründlich zu prüfen. Gemäss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte lässt das absolute Bettelverbot jedoch eine Abwägung der betroffenen Interessen von vornherein gar nicht zu und bestraft das Betteln unabhängig davon, wer die ausgeübte Tätigkeit ausübt, wie verletzlich diese Person ist, ob sie zu einem kriminellen Netzwerk gehört oder nicht, um welche Art des Bettelns es sich handelt und wo dieses ausgeübt wird.

Das einstimmige Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist für den Schutz von Minderheiten in der Schweiz und ganz Europa von grosser Bedeutung. Es korrigiert die besorgniserregende Position des Bundesgerichtes, wonach Betteln zwar ein Grundrecht ist, es aber trotzdem verboten werden kann. Dass die Anwesenheit von Bettelnden stört, darf nicht ausreichen, um ihre Menschenrechte einzuschränken. Zumal sie ohnehin zu den Schwächsten der Gesellschaft gehören. Das Urteil aus Strassburg hat Signalwirkung: Absolute Bettelverbote auf kantonaler und kommunaler Ebene haben künftig einen schweren Stand. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind verbindlich, wodurch die Schweizer Kantone nun verpflichtet sind, undifferenzierte Bettelverbote aufzuheben und sie so anzupassen, dass sie eine Einzelfallprüfung zulassen und mit der Europäischen Menschenrechtskonvention kompatibel sind.

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Standpunkte

Ein neues Phänomen geistert durch die von Pandemien, Klimawandel und Finanzkrisen geplagte Gesellschaft. Es trägt den Namen Holocaustrelativierung. Dabei spielt die politische Gesinnung keine Rolle. Ob Adolf Muschg, der die Cancel Culture als eine Form von Auschwitz bezeichnet oder ein Lausanner Gemeinderatskandidat, der das Burkaverbot als Vorbote neuerlicher Nazigreuel sieht. Sie alle meinen, das Schreckgespenst Holocaust in den für sie relevanten politischen Debatten zu erkennen. Die wohl prominentesten Exponenten dieses Phänomens sind die sogenannten Corona-Demonstranten und Demonstrantinnen. Woche für Woche ziehen sie durch Schweizer Städte und stellen mit irritierendem Stolz den gelben Judenstern auf der Brust zur Schau. All diese Beispiele zeigen: Jeder, der sich heutzutage in irgendeiner Weise benachteiligt fühlt, outet sich gleich als «der Jude von heute».

Während der Aufschrei bei diesen und ähnlichen Vorfällen mal grösser und mal kleiner ausfällt, versucht kaum jemand zu erklären, warum diese Vergleiche so gerne gemacht werden und weshalb das nicht nur verwerflich ist, sondern sogar gefährlich sein kann.

 

Instrumentalisierung für eigene Zwecke

Im harmlosesten Fall fehlt es den Menschen, die solche Vergleiche machen, am nötigen Geschichtsverständnis. Diesem könnte man immerhin mit gezielter Bildungsarbeit nachhelfen. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass die Shoah bewusst und willentlich instrumentalisiert wird. Denn der «Holocauststempel» zieht immer: Nichts symbolisiert die Stilisierung zum geläuterten Opfer besser als ein gelber Judenstern auf der Brust oder die mit Schrecken behafteten Namen früherer Vernichtungslager.

Dass diese Taktik nicht nur billige Propaganda für die eigene politische Agenda ist, sondern auch schmerzhaft für Überlebende der Shoah, scheint diesen Leuten egal zu sein. Was sie aber nicht verstehen, ist, dass die Judensterne und Auschwitz kein Symbol für unbeliebte Meinungen sind, für die man kritisiert wird. Sie stehen für die Markierung von Menschen, die zu staatlich orchestriertem Massenmord verurteilt wurden und damit ihr Recht auf Leben und Menschenwürde von einem Tag auf den anderen verloren. Dass man für eine kontroverse Meinung (die in der Demokratie, in der wir leben, immer noch straflos geäussert werden kann) öffentlich angeprangert, ja vielleicht sogar beleidigt und diffamiert wird, ist vielleicht die Schattenseite der gegenwärtig vorherrschenden Empörungskultur – sie ist aber definitiv nicht gleichzusetzen mit einem Genozid.

 

Relativierung führt zu Verharmlosung

Dass solche Vergleiche nicht nur verwerflich, sondern auch gefährlich sein können, wurde in der hitzig geführten Debatte der letzten Tage viel zu wenig betont. Denn auch wenn der Holocaust mit solchen Vergleichen nicht direkt geleugnet wird, relativiert man ihn. Zweifelllos müssen Vergleiche zu anderen Massenmorden möglich sein – schon allein mit dem Ziel, aus der Vergangenheit zu lernen. Wer aber unterstellt, dass aktuelle Phänomene wie die geltenden Hygienemassnahmen oder eine selbsternannte Sprachpolizei auch nur im Ansatz den damaligen Zuständen ähneln, setzt den Keim zur Frage, ob die Lage der Juden damals wirklich so schlimm war, oder ob sich diese einfach etwas vehementer hätten wehren sollen. Solche Zustände sind mancherorts bereits Realität. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus den USA ergab, dass knapp ein Viertel der Jugendlichen glauben, die Erzählungen über den Holocaust seien übertrieben. Gleichzeitig gaben in Deutschland in einer 2018 durchgeführten Studie rund 40 Prozent der 18 bis 34-Jährigen an, “wenig” oder “gar nichts” über die Shoah zu wissen. Was die direkte Folge davon sind, zeigt eine aktuelle Studie der ZHAW. Darin gab jede zehnte jüdische Person in der Schweiz an, von nicht-jüdischen Menschen schon gehört zu haben, der Holocaust sei ein Mythos oder werde übertrieben dargestellt.

 

Bis die Klinge stumpf ist

Momentan diskutiert der Bundesrat über ein nationales Holocaustdenkmal in Bern. In Anbetracht der immer wiederkehrenden Instrumentalisierung der Shoah, erweist es sich als zwingend, eine Erinnerungskultur zu fördern, die nicht nur gedenkt, sondern auch kontextualisiert. Nur so lässt sich verhindern, dass Vergleiche mit dem Holocaust zu einer politischen Waffe verkümmern, die jedes politische Lager benutzt, bis die Klinge so stumpf ist, dass sie bei einem tatsächlichen Angriff auf unsere Demokratie nicht mehr schneidet.

 

Dina Wyler, Geschäftsführerin GRA – Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus

Der Standpunkt wurde bereits am 30.04.2021 auf der Website der GRA veröffentlicht. In Zusammenarbeit mit der GRA veröffentlichen wir ihn hier erneut.

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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