Auch wenn alle Angehörigen der Armee während des Militärdienstes eine Uniform tragen, uniform sind sie deswegen noch lange nicht. Die Angehörigen der Armee sind bunt, vielfältig, denn sie repräsentieren einen Querschnitt durch unsere Gesellschaft. So unterscheidet die Armee nicht nach religiöser, kirchlicher, konfessioneller oder weltanschaulicher Ausrichtung ihrer Soldatinnen und Soldaten, egal welcher Funktion oder welchen Grades. Die Armeeseelsorge als Betreuungsdienst ganz nahe bei der Truppe ist demzufolge gefordert, ihre Tätigkeit ohne Unterschied zugunsten aller Angehörigen der Armee auszurichten. Das hat sie schon immer getan und das soll sie auch in Zukunft tun. Je vielfältiger unsere Gesellschaft und je vielfältiger demzufolge unsere Armee ist, umso mehr muss sich darum auch die Armeeseelsorge mit dieser Vielfalt auseinandersetzen und ihr Engagement so ausrichten, dass sie den Anliegen und Bedürfnissen, die aus dieser Vielfalt resultieren, bestmöglich gerecht wird.

 

Seelsorgliche Beratung, Begleitung und Unterstützung ist darum menschen-orientiert und ergebnisoffen. Der Weg und das Ziel, zum Beispiel eines Vieraugengesprächs, werden darum in erster Linie durch die Ratsuchenden selbst definiert. Armeeseelsorgerinnen und Armeeseelsorger nehmen die Gegenüber in deren Menschsein ganzheitlich wahr und an, begegnen ihnen dort, wo diese sich befinden, ermutigen und stärken sie in ihren Herausforderungen. Armeeseelsorgende begleiten die Ratsuchenden in deren Findungsprozess und stehen dabei für eine hoffnungsvolle Perspektive ein. Mit und durch diese Haltung sollen die Armeeseelsorgerinnen und Armeeseelsorger zeigen, dass sie für alle, wirklich für alle, niederschwellige Ansprechpersonen sind, offen für jedes Thema, auch und gerade für Themen von Angehörigen von Minderheiten, die sich unter Umständen am einen oder anderen Ort schwer tun mit dem, was die Mehrheitsgesellschaft an Unterstützung oder an Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt. Hierbei gibt die Armee der Armeeseelsorge bewusst den Raum, sich diesen Themen anzunehmen und nach Lösungen zu suchen und Wege zu finden.

 

Die Glaubwürdigkeit der Armeeseelsorge, sich auch für die Anliegen von Minderheiten einsetzen zu wollen, steigt, wenn es ihr gelingt, auch in ihren eigenen Reihen diverser zu werden. Diesen Weg beschreitet sie sorgfältig. Im letzten Jahr wurden durch den Chef der Armee Grundlagen geschaffen, die es der Armeeseelsorge erlauben, mit Kirchen und religiösen Gemeinschaften eine Partnerschaft einzugehen, wenn diese denn bereit sind, die Grundlagen der Armeeseelsorge, wie oben skizziert, ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Wenn sie dies tun, bekommen sie das Recht, der Armeeseelsorge Leute für ein Engagement vorzuschlagen. Die Armeeseelsorge schaut sich diese an und entscheidet, ob sie diese in ihren eigenen Lehrgang aufnimmt und hernach der Truppe zur Verfügung stellen kann.

Die so gewonnenen Leute müssen ihre Herkunft, Identität und Überzeugung weder verstecken noch verleugnen. Als Vertreter eines Dienstes, der für alle Angehörige der Armee gleichsam offensteht, müssen sie aber bereit sein, diese ein Stück weit zurückzustellen.

 

Daneben engagiert sich die Armeeseelsorge aktuell in einem Pilotprojekt mit dem Titel “Sensibilisierung im Umgang mit Diversität und Inklusion in der Armee”, bei dem es darum geht, junge Kader vor dem Abverdienen in einer Rekrutenschule bezüglich ihres Umgangs mit Angehörigen von Minderheiten zu schulen, respektive zu sensibilisieren. Die Auswertung wird zeigen, inwiefern dieses Projekt das Ziel erreichen wird: Eine Armee für alle.

 

Stefan Junger, Chef Armeeseelsorge

www.armee.ch/seelsorge (hier sind unter “Dokumente” auch die oben erwähnten Grundlagentexte zu finden)

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Standpunkte

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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