21.03.2022

Der neue Rassismusbericht der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und der GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz thematisiert anlässlich des Internationalen Tages gegen Rassismus rassistische Vorfälle des vergangenen Jahres. 2021 kam es zu besonders vielen Sachbeschädigungen und Sprayereien mit nationalsozialistischen Symbolen im öffentlichen Raum. Auch im Zusammenhang mit Protesten gegen die Coronamassnahmen tauchten vermehrt Hakenkreuze oder gelbe Davidsterne auf, welche einen Vergleich zwischen der aktuellen politischen Situation und dem nationalsozialistischen Regime zu ziehen versuchen.

 

Rassismusbericht 2021 als PDF herunterladen

 

1. Vorwort

Das Jahr 2021 war geprägt von besonders vielen Sachbeschädigungen und Sprayereien mit nationalsozialistischen Symbolen im öffentlichen Raum. Als einer der gravierendsten Vorfälle gilt die im Februar 2021 verunstaltete Eingangstür zur Bieler Synagoge, welche mit einem Hakenkreuz und nationalsozialistischen Slogans beschmiert wurde. Im März ritzte ein unbekannter Mann ein Hakenkreuz in einen Baum am Zürcher Bellevue und im Sommer sprayten Unbekannte in Thalwil den Schriftzug «Impfen macht frei» mitsamt Hakenkreuz an eine Wand entlang der Zürcherstrasse. Ein weiterer Vorfall ereignete sich in einem Park im Tessin, wo ein Hakenkreuz an einem Schild angebracht wurde. Doch nicht nur die «klassischen» Symbole des Nationalsozialismus wurden im vergangenen Jahr im öffentlichen Raum gesichtet. Im Juli entrollten Jugendliche ein Banner an der Berner Kornhausbrücke, darauf die sogenannte Tyr-Rune, ein nach oben gerichteter Pfeil. Das Symbol steht für die Gruppierung «Junge Tat», die sich selbst als Jugendflügel der rechtsextremen Nationalen Aktionsfront (NAF) bezeichnet.

Der GRA gemeldeter Vorfall: ein auf den Nationalsozialismus verweisendes Symbol an der Heckscheibe eines Pickups

Der GRA gemeldeter Vorfall: ein auf den Nationalsozialismus verweisendes Symbol an der Heckscheibe eines Pickups

Letztlich tauchen im Zusammenhang mit Protesten gegen die Coronamassnahmen immer wieder Hakenkreuze oder gelbe Davidsterne auf, welche einen Vergleich zwischen der aktuellen politischen Situation und dem nationalsozialistischen Regime zu ziehen versuchen. Auch wenn nicht jeder dieser Vorfälle per se auf ein antisemitisches Motiv hindeutet, sind sie in ihrer Gesamtzahl doch bedenklich, da sie auf ein verwässertes Geschichtsverständnis innerhalb der Bevölkerung hindeuten und zu einer Verharmlosung der Gräueltaten dieser Zeit führen. Angesichts dieser Entwicklungen wurden Ende letzten Jahres gleich drei parlamentarische Vorstösse eingereicht, welche ein Verbot extremistischer oder nationalsozialistischer Symbole fordern. Zum Vorstoss von Marianne Binder-Keller, eine Forderung eines ausnahmslosen Verbots öffentlicher Zurschaustellung von Nazisymbolik, hat der Bundesrat bereits Stellung bezogen und argumentierte hierbei ähnlich, wie in früheren Stellungnahmen zu Vorstössen dieser Art. In seiner Begründung schreibt der Bundesrat, dass gegen die Verwendung von nationalsozialistischen Symbolen ohne Propagandazwecke Prävention ein besser geeigneteres Mittel sei als eine strafrechtliche Repression. Die GRA ist hier anderer Ansicht, denn das eine muss das andere nicht ausschliessen. Es braucht beides – Prävention, aber auch ein Verbot inklusive klarer Strafbestimmung. Daher hat die GRA eine Petition an den National- und Ständerat lanciert, welche bereits von Tausenden unterzeichnet wurde. Mit dieser Petition werden die Mitglieder des National- und Ständerats dazu aufgefordert, die eingereichten politischen Vorstösse anzunehmen und damit ein unmissverständliches Zeichen gegen Rassismus und Antisemitismus zu setzen (Mehr Informationen zu den politischen Vorstössen unter «Aktuelle Vorstösse zum Verbot von rassistischen Symbolen im Parlament»).

«Rassistische Symbole und Gesten vermitteln in komprimierter Form Aussagen, welche mit dem Kerngedanken einer demokratischen Gesellschaft nicht zu vereinbaren sind.»

Fest steht, dass Symbole eine nicht zu unterschätzende Wirkung haben und oftmals eine unmissverständliche Message vermitteln. Denn
Rassistische Symbole und Gesten vermitteln in komprimierter Form Aussagen, welche mit dem Kerngedanken einer demokratischen Gesellschaft nicht zu vereinbaren sind. Eine präzise Ausgestaltung und Formulierung der Strafnorm sind deshalb wichtig, um die öffentliche Verwendung von rassistischen Symbolen und Gesten genügend strafrechtlich zu erfassen. Zur aktuellen rechtlichen Lage und politischen Diskussion, um ein mögliches Verbot von nationalsozialistischen Symbolen im öffentlichen Raum, äussert sich nachfolgend Strafrechtsprofessor und Ständerat Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch. Im zweiten Interview erläutert der Extremismusexperte Samuel Althof die Macht und Wirkung von Symbolen und ihrer Reichweite, insbesondere im Zusammenhang mit derzeit kursierenden Verschwörungsmythen.

Das vergangene Jahr war zudem weiterhin geprägt von antisemitischen Verschwörungsideologien. Aus diesem Grund hat die GRA einen neuen Informationsflyer für Lehrpersonen lanciert und auf ihrer Webseite ein Online-Glossar mit Codewörtern und Begriffen erstellt, welches über die Hintergründe der Verschwörungsideologien aufklärt und für die Inhalte sensibilisiert.

Im Vergleich zum Vorjahr erhielt die GRA vermehrt Meldungen über rassistische Vorfälle an Schulen. Neben rassistischen Äusserungen waren es vordergründig nationalsozialistische Symbole und Gesten, die gemeldet wurden (mehr dazu unter «Rassismus an Schulen»). Die GRA beobachtet diese Entwicklungen genau und hat ihre Bildungs- und Präventionsarbeit weiter ausgebaut, um Lehrpersonen, Lernende und Eltern bei einem konstruktiven Austausch zum Thema Rassismus und Antisemitismus zu unterstützen.

2. Rassismus in der Schweiz 2021

Die Chronologie der rassistischen Vorfälle, welche die GRA zusammen mit der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS) auf der GRA Website unter www.gra.ch/chronologie fortlaufend führt, registrierte im Jahr 2021 insgesamt 86 rassistische oder antisemitische Vorfälle, die schweizweit von den Medien publiziert wurden.

Da nur die in den Medien publizierten rassistischen oder antisemitischen Vorfälle in die Chronologie aufgenommen werden, erhebt diese keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Chronologie beinhaltet auch nicht die direkt an die GRA gemeldeten Vorfälle (mehr dazu unter «Rassistische Meldungen»).

«Trotz der gestiegenen Anzahl erfasster Vorfälle, kann weiterhin von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.»

Im Vergleich zum Vorjahr weist die Chronologie des Jahres 2021 einen Zuwachs an rassistischen Vorfällen auf. Ein Grund für die Zunahme der Vorfälle liegt in der anhaltenden COVID-19 Pandemie und den damit einhergehenden Massnahmenprotesten und öffentlichen Äusserungen von Massnahmen- und Impfgegner:innen. In diesem Zusammenhang gab es eine deutliche Zunahme an holocaustrelativierenden Vorfällen. Auch wenn diese Vorfälle nicht per se antisemitisch waren, verwässern sie in ihrer Gesamtheit das Geschichtsverständnis und sind daher alles andere als harmlos. Eine Zunahme von Vorfällen gab es ebenfalls bei Sachbeschädigungen und Schmierereien, wobei nationalsozialistische Symbole, wie das Hakenkreuz, sich besonders häuften. Beidiesen Vorfällen gab es in den meisten Fällen keinen direkten oder lokalen Bezug zu jüdischen Institutionen oder Personen.

Mehrere Parlamentarier:innen haben sich im letzten Jahr dieser Problematik angenommen und Vorstösse eingereicht, welche sich um ein Verbot rassistischer und antisemitischer Symbole im öffentlichen Raum bemüht. Die Antwort des Bundesrats steht noch aus und die Debatte im Parlament wird in den kommenden Wochen und Monaten geführt.

Ein weiterer Grund für die Zunahme von Fällen sind zahlreiche Meldungen über diskriminierende Vorfälle gegenüber Mitgliedern der LGBTQIA+ Community. Neben Beschimpfungen kam es vereinzelt auch zu tätlichen Angriffen.

Trotz der gestiegenen Anzahl der erfassten Vorfälle, kann weiterhin von einer hohen Dunkelziffer von nicht gemeldeten rassistischen und antisemitischen Vorfällen ausgegangen werden, da nur die wenigsten Zwischenfälle den Weg in die Medien finden oder zur Anzeige gebracht werden.

Der GRA gemeldeter Vorfall: ein eingeritztes Hakenkreuz in einem Baum am Zürcher Bellevue

Der GRA gemeldeter Vorfall: ein eingeritztes Hakenkreuz in einem Baum am Zürcher Bellevue

Rechtsradikalismus/Extremismus

Im Verlauf des Jahres 2021 wurde in den Medien immer wieder von Aufmärschen und Zusammenkünften rechtsextremer Gruppen und Teilnahmen von Rechtsextremen an Coronademonstrationen berichtet. Wie viele andere Gruppierungen auch, versuchen Rechtsextreme von den aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang mit der COVID-19 Pandemie zu profitieren und ihre Reichweite zu erhöhen. Dabei unterwandern sie die Coronademonstrationen und marschieren mit der heterogenen Gruppe von Massnahmengegner:innen mit. Zwar besteht ein gewisses Potenzial, den Demonstrationszug als Rekrutierungsplattform zu nutzen, um für rechtsextremes Gedankengut zu werben, jedoch besteht hier eine geringere Gefahr, da eine seriöse Rekrutierung neuer Mitglieder einen längeren Beziehungsaufbau braucht (siehe ausführliches Interview mit dem Extremismusexperten Samuel Althof hier). Eine reale Gefahr sieht der Experte jedoch bei den Coronademonstrant:innen, welche mit ihren Diktaturvergleichen die Legitimität des Staates in Frage stellen. Mit diesem Verhalten rechtfertigen sie mögliche gewalttätige Ausschreitungen gegen Institutionen und Politiker:innen. Dies birgt stets dort eine Gefahr, wo der Staatsapparat per se zum Feind deklariert wird.

«Auffällig ist im Jahr 2021 die Häufung von Sachbeschädigungen und Schmierereien, bei denen nationalsozialistische Symbole wie das Hakenkreuz verwendet wurden.»

Ebenfalls kam es zu Aufmärschen von Rechtsextremisten, wie die Zusammenkunft zum Gedenken an die Schlacht von Sempach am Winkelried-Denkmal und die organisierte Wanderung einiger Mitglieder der «Jungen Tat» in Baselland. Die beobachteten Teilnehmerzahlen bei solchen Zusammenkünften sind in den vergangenen Jahren etwa gleichgeblieben. Im Vergleich zu Deutschland, bildet die rechtsextreme Szene in der Schweiz eher punktuell eine Gefahr. Auffällig ist im Jahr 2021 die Häufung von Sachbeschädigungen und Schmierereien, bei denen nationalsozialistische Symbole wie das Hakenkreuz verwendet wurden. Dabei wurden diese oftmals in Kombination mit Beschimpfungen oder Massnahmen- und Impfkritischen Aussagen kombiniert.

Antisemitismus

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) gibt gemeinsam mit der GRA jährlich einen Antisemitismusbericht heraus, der einen Überblick über die registrierten antisemitischen Vorfälle und die aktuelle Lage in der Schweiz gibt. 2021 kam es zu einer Steigerung der registrierten antisemitischen Vorfälle. Zu dieser Steigerung haben sowohl antisemitische Zusendungen beigetragen, als auch vermehrt registrierte Vorfälle im Online-Bereich.

Antisemitische Vorfälle treten oft gehäuft auf, aufgrund sogenannter «Trigger». Der mit Abstand grösste Trigger im Jahr 2021 war weiterhin die COVID-19 Pandemie, neben der kurzzeitigen Eskalation des Nahost-Konflikts im Mai/Juni 2021. Etwa die Hälfte der registrierten Online-Vorfälle hatten zeitgenössische antisemitische Verschwörungsideologien zum Inhalt, wovon sich wiederum die Hälfte mehr oder weniger direkt auf die COVID-19 Pandemie bezog. Rund um die Corona-Massnahmen kam es zu einer Zunahme von Vergleichen mit der Schoah und dem nationalsozialistischen Regime. Diese Vergleiche sind nicht nur falsch, sie sind absurd und verwerflich. Auch wenn solche Vergleiche nicht per se antisemitisch sind, heizen diese dennoch die Stimmungslage auf und schaffen einen Nährboden für antisemitische Stereotypen und Vorurteile, die sich in Haltungen manifestieren können.

Anti-Schwarzen-Rassismus

Weiterhin sind Schwarze Menschen von rassistischen Vorfällen und Diskriminierung betroffen, häufig erleben sie verbale Attacken und Beschimpfungen. Im Jahr 2021 gab es erneut mehrere rassistische Vorfälle bei Fussballspielen. Schwarze Spieler wurden während und nach den Spielen von frustrierten Fans verbal im Stadion oder anschliessend in den Sozialen-Netzwerken attackiert. Obwohl einige Vorfälle von den Medien aufgegriffen wurden und es eine grosse Welle der Entrüstung gab, lassen langfristige Veränderungen oder Massnahmen zur Verhinderung solcher Aktionen auf sich warten. Als Reaktion auf die Häufung von rassistischen Vorfällen in Fussballstadien hat die GRA zusammen mit Züricher Politiker:innen, dem FC Hakoa und dem FC Kosova, im November 2021 ein Freundschaftsspiel organisiert, als Zeichen der Toleranz und Diversität.

Freundschaftsspiel zwischen dem FC Hakoa und dem FC Kosova (©Philipp Uster)

Freundschaftsspiel zwischen dem FC Hakoa und dem FC Kosova (©Philipp Uster)

Neben verbalen Attacken wurden vereinzelt auch tätliche Angriffe gegen Schwarze Menschen registriert. Ein besonders schwerer Vorfall ereignete sich im Oktober 2021 in St. Gallen, als ein Pensionär auf einen aus Eritrea stammenden Clubbesitzer zuging und diesem ohne Vorwarnung Pfefferspray ins Gesicht sprühte. Dabei beschimpfte der ältere Mann den Clubbesitzer aufgrund seiner Hautfarbe und machte auch nach dem Eintreffen der Polizeibeamten, vor etlichen Augenzeugen, rassistische Aussagen. Die Staatsanwaltschaft befand den Pensionär der Tätlichkeiten, der Beschimpfung und des Aufrufs zur Rassendiskriminierung für schuldig und verurteilte diesen zu einer Geldstrafe.

Auch das letzte Jahr war geprägt von einer äusserst hitzig geführten Debatte über diskriminierende Begriffe. Dabei stand der Umgang mit problematischen Abbildungen und Bezeichnungen historischer Gebäude im Fokus. Die Stadt Zürich hat in diesem Zusammenhang beschlossen, Häusernamen, die das M-Wort enthalten, abzudecken und somit aus dem Stadtbild zu entfernen.

 

Antimuslimischer Rassismus

Wie der Bericht des Bundesamtes für Statistik (BFS) «Zusammenleben in der Schweiz» zeigt, ist die Bevölkerung gegenüber der muslimischen Gemeinschaft nach wie vor negativer eingestellt als gegenüber anderen Gruppen. Dies zeigte sich ebenfalls im Zusammenhang mit der «Verhüllungsverbotsinitiative». Wahlplakate, die für die Initiative warben, zeigten grimmig dreinblickende verhüllte Frauen zusammen mit dem Aufruf, den Extremismus zu stoppen. Bestehende Ressentiments sowie mögliche Ängste und Stereotype, die sich häufig generell gegen Muslim:as richten, wurden auf diese Weise mit Kampagnen in der Öffentlichkeit sowohl wiedergegeben als auch weiterhin geschürt. Punktuell ist es im Jahr 2021 zu antimuslimischen Vorfällen gekommen, die vor allem Frauen betrafen, die einen Hijab oder ein Kopftuch tragen. Dabei handelte es sich vordergründig um verbale Angriffe in der Öffentlichkeit.

Rassistische Meldungen

Neben den rassistischen Vorfällen, welche in den Medien aufgriffen wurden, gab es 2021 auch eine grosse Anzahl an Fällen, welche der GRA über die GRA-Webseite, per E-Mail oder telefonisch direkt gemeldet wurden. Neben zahlreichen Meldungen über rassistische oder antisemitische Inhalte und Kommentare im Online-Bereich, gab es im Jahr 2021 ebenfalls besonders viele Meldungen von rassistischen Vorfällen an Schulen, die der GRA direkt gemeldet wurden.

Rassismus an Schulen

Im Jahr 2021 wurden der GRA deutlich mehr rassistische Vorfälle an Schulen gemeldet als im vergangenen Jahr. Neben rassistischen Äusserungen waren es vermehrt auch Vorfälle, die rassistische und insbesondere nationalsozialistische Symbole und Gesten beinhalteten. Hier zeigt sich, dass sich in den Schulen die Vorgänge und Entwicklungen der Gesellschaft widerspiegeln. Unter Schüler:innen einer Schule im Kanton Zürich wurde der Hitlergruss zelebriert und Scherze über die Vergasung von Menschen in Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkrieges, mit Anspielungen auf Personen von heute, gemacht. An einer anderen Schule im Kanton Schaffhausen streckten Lernende auf einem Velo ihre rechte Hand, statt zum Zwecke des Rechtsabbiegens, zu einem Hitlergruss aus. Ein weiterer Vorfall ereignete sich in einer 2. Sek. Klasse, bei dem die Lernenden bei einem Klassenfoto hochspringen und ihre Hände fröhlich in die Luft heben sollten. Einer der Lernenden zeigte bei dieser Gelegenheit den Hitlergruss. Meist sind Eltern in solchen Situationen verunsichert und wissen nicht, wie sie reagieren oder die Problematik ansprechen sollen, wenn sie von solchen Vorfällen an den Schulen ihrer Kinder erfahren. Doch auch Lehrpersonen wissen oftmals nicht, wie sie angemessen reagieren können. Dies zeigt ein Vorfall an einer Zürcher Schule, bei dem ein jüdischer Schüler nach den Frühjahrsferien auf seinem Pult ein eingeritztes Hakenkreuz vorfand. Die zuständige Lehrperson überklebte das nationalsozialistische Symbol und liess den Lernenden weiterhin an dem Pult arbeiten. Nachdem die Mutter des betroffenen Schülers interveniert hatte, wollte die Lehrperson den Tisch entfernen und in den Flur stellen, wo weitere Lernende mit dem überklebten Symbol konfrontiert wären.

«Im Jahr 2021 wurden der GRA deutlich mehr rassistische Vorfälle an Schulen gemeldet als im vergangenen Jahr.»

Neuer Flyer der GRA zu «Verschwörungstheorien»

Neuer Flyer der GRA zu «Verschwörungstheorien»

Auch wurden der GRA rassistische Vorfälle an Schulen gemeldet, bei denen Lernende aufgrund ihrer Hautfarbe beschimpft und diskriminiert wurden. Die GRA berät die Meldenden bei allen Vorfällen und die Partnerstiftung SET – Erziehung zur Toleranz übernimmt die Intervention vor Ort.

Um auch Anlaufstellen und Gefässe für Diskussionen vor Ort zu schaffen und Lehrpersonen sowie Lernende für die Themen Rassismus und Antisemitismus zu sensibilisieren und ihnen Tools an die Hand zu geben, wie sie auf rassistische Vorfälle an Schulen angemessen reagieren können, führt die GRA im Frühjahr 2022, während der Internationalen Anti-Rassismuswoche, den zweitägigen Workshop «Sparks – Zämä gege Rassismus» durch.

Des Weiteren nahm die GRA die andauernde Verbreitung von Verschwörungsideologien, mit antisemitischen Narrativen, zum Anlass einen neuen Informationsflyer für Lehrpersonen zu lancieren. Der Flyer zu «Verschwörungstheorien» klärt über die Mechanismen von Verschwörungsideologien auf, verweist auf ihre Gefahren und sensibilisiert für antisemitische Inhalte.

Die Sensibilisierung für Antisemitismus im Alltag, besonders im Sprachgebrauch, stand auch bei der Entwicklung des neuen Bildungstools «Antisemitismus im Alltag. Erkennen. Benennen. Reagieren.» im Mittelpunkt. Das Tool richtet sich speziell an junge Menschen und soll diesen ein Werkzeug an die Hand geben, mit welchem sie Antisemitismus im Alltag erkennen und angemessen darauf reagieren können.

Hate Speech

Einen grossen Teil der direkt an die GRA gemeldeten rassistischen Vorfälle betraf Hate Speech. Dabei handelte es sich meist um Meldungen von rassistischen Posts bzw. Kommentaren auf den Social Media Plattformen und Meldungen über rassistische Äusserungen in den Kommentarspalten von Online-Ausgaben von Zeitungen. Trotz definierter Nutzungsregeln, die die Social Media Plattformen für ihre Nutzer:innen aufgestellt haben, fallen zahlreiche rassistische und antisemitische Äusserungen durch das Raster und werden von den Verantwortlichen nicht gelöscht. Posts und Kommentare, die unterschwellig rassistisch bzw. antisemitisch sind oder beispielsweise den Holocaust verharmlosen, ohne diesen konkret zu leugnen, werden oftmals nicht gelöscht. Somit kursieren weiterhin zahlreiche rassistische und antisemitische Botschaften im Online-Bereich.

«Posts und Kommentare, die unterschwellig rassistisch bzw. antisemitisch sind, werden oftmals nicht gelöscht.»

Die gemeldeten Vorfälle spiegeln eine Entwicklung wider, welche die steigende Bedeutung von Hate Speech, insbesondere im Online-Bereich, aufzeigt. Als Reaktion auf diese Entwicklungen lancierte das EKR im November 2021 eine neue Meldeplattform für rassistische Online-Hassrede. Unter www.reportonlineracism.ch können dem EKR Vorfälle direkt gemeldet werden.

Schlussfolgerung

Die Ereignisse im Jahr 2021 verdeutlichen einmal mehr, wie vielschichtig Rassismus, Antisemitismus und andere Diskriminierungsformen sind, wo sie überall auftreten und wie komplex deren Bekämpfung ist. Vor allem die zahlreichen Vorfälle im Jahr 2021, bei denen nationalsozialistische Gesten und Symbole im Zentrum standen, zeigen, wie dringend es aktuell eine Debatte und mutige Stellungnahmen seitens der Politik braucht. Im Gegensatz zu Deutschland kennt die Schweiz kein konsequentes Verbot von nationalsozialistischen Symbolen und Gesten. Das öffentliche zur Schau stellen von Symbolen und Gesten, wie Hakenkreuze oder Hitlergruss, ist nur dann strafbar, wenn damit für eine Ideologie geworben wird. Die Meinungsfreiheit ist in der Schweiz ein hohes Gut, daher ist der Kontext, in welchem die Symbole und Gesten verwendet werden, stets zu beachten. Gleichzeitig ist es nicht von der Hand zu weisen, dass es sich bei den genannten Symbolen und Gesten um Sinnbilder einer Ideologie handelt, die mit den Grundprinzipien eines demokratischen Rechtsstaates nicht zu vereinbaren sind. Daher braucht es eine klare Rechtsgrundlage und eine klare Positionierung, die sich gegen rassistisch motivierten Hass stellt.

Nationalsozialistische Symbole und Gesten, wie das Hakenkreuz oder der Hitlergruss, haben in der Schweiz nichts verloren. Daher fordert die GRA mit der lancierten Petition den National- und Ständerat dazu auf, die drei eingereichten politischen Vorstösse anzunehmen. Gerade in einer Zeit, in der sich Vorfälle im Zusammenhang mit nationalsozialistischer Symbolik häufen, muss ein deutliches Zeichen gegen Rassismus und Antisemitismus gesetzt werden.

3. Interview mit Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch über die aktuelle rechtliche Situation zum Verbot von nationalsozialistischen Symbolen

Interview mit Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch, Ständerat und Professor für Strafrecht Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch

Herr Jositsch, Ende 2021 wurden gleich drei politische Vorstösse eingereicht, die ein Verbot von extremistischen oder nationalsozialistischen Symbolen fordern. Wie deuten Sie diese Entwicklung?

Parlamentarier:innen sind ein Sensor für den Zeitgeist und greifen jene Themen auf, die die Gesellschaft bewegen. Die Proteste gegen die Coronamassnahmen haben rechte Gruppierungen auf den Plan gerufen, die an Protesten mitlaufen. Gleichzeitig häufen sich bei diesen Protesten Vergleiche mit dem Nationalsozialismus, beispielsweise mit dem gelben Davidstern. Teile der Gesellschaft fordern daher ein klares Zeichen der Politik, welches mit diesen Vorstössen aufgegriffen wurde.

Ein Verbot nationalsozialistischer Symbole wird immer wieder diskutiert im Parlament. Vor 15 Jahren haben Sie sich ebenfalls für ein Verbot ausgesprochen, als dieses als Bundesratsvorlage in die Vernehmlassung ging. Am Schluss wurde das Thema aber versenkt. Wieso?

Dazu muss man die Entstehungsgeschichte der Rassismus-Strafnorm verstehen. Als diese Mitte der 90er Jahre dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurde, sahen bestimmte Kreise die Meinungsäusserungsfreiheit in Gefahr. Man entschied sich aus strategischen Gründen dazu, die Norm eher «schlank» zu halten, damit die Chancen einer Annahme an der Urne möglichst hoch sind. Schon damals erwog man aber eine mögliche Ergänzung für Symbole in Zukunft. Heute ist die Rassismus- Strafnorm weniger umstritten – eine Ergänzung daher vielleicht gar nicht so unrealistisch.

Wäre ein Verbot überhaupt umsetzbar?

Ich glaube in dieser Debatte ist es wichtig, dass man eine realistische Erwartungshaltung beibehält. Allein die Tatsache, dass solche Symbole konstant in leicht abgeänderter Form neu in Erscheinung treten, macht die Umsetzung eines Verbotes unglaublich schwierig. Die Erwartung, dass man bei einem Verbot solche Symbole nicht mehr sieht im öffentlichen Raum, ist unrealistisch. Wenn es aber vor allem darum geht, ein Zeichen zu setzen, dass menschenverachtende Ideologien nicht geduldet werden im öffentlichen Raum, dann kann ein Verbot durchaus Sinn ergeben. Schliesslich ist Geldwäscherei ja auch verboten, auch wenn diese damit nicht verhindert werden kann.

Wenn ein Gesetz allein nicht reicht, was braucht es zusätzlich zur Bekämpfung der Verbreitung und Anziehungskraft solcher Symbole?

Das beste und wohl nachhaltigste Mittel ist Präventions- und Bildungsarbeit. Die junge Generation muss genau wissen, wofür diese Symbole stehen und weshalb sie auf keinen Fall verharmlost oder für die eigene politische Agenda eingesetzt werden dürfen. Dieses Wissen muss so vermittelt werden, damit es die Lebensrealität junger Generationen auch anspricht.

Ständerat und Professor für Strafrecht Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch

Ständerat und Professor für Strafrecht Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch

Zur Person:
Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch ist Ständerat und Professor für Aktuelle Vorstösse zum Verbot von Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Zürich. Er ist zudem Mitglied der Staatspolitischen Kommission, Mitglied der Delegation bei der Interparlamentarischen Union und seit 2018 Vizepräsident der Sozialdemokratischen Fraktion.

Aktuelle Vorstösse zum Verbot von rassistischen Symbolen im Parlament:
Die von Marianne Binder-Keller eingereichte Motion «Keine Verherrlichung des Dritten Reiches – Nazisymbolik im öffentlichen Raum ausnahmslos verbieten» zielt darauf ab, eine eigenständige Grundlage zu schaffen, um die Verwendung von in der Öffentlichkeit bekannten Kennzeichen des Nationalsozialismus digital wie in der realen Welt zu verbieten und unter Strafe zu stellen

Mit der Parlamentarischen Initiative «Verbot der öffentlichen Verwendung von extremistischen, gewaltverherrlichenden und rassistischen Symbolen», eingereicht von Angelo Barrile, soll eine Anpassung der gesetzlichen Grundlagen erreicht werden, um die öffentliche Verwendung von Propagandamitteln, insbesondere des
Nationalsozialismus oder einer rassistisch motivierten Vereinigung unter Strafe zu stellen.

Die Parlamentarische Initiative «Öffentliche Verwendung und Verbreitung rassendiskriminierender Symbole in jedem Fall unter Strafe stellen», eingereicht von Gabriela Suter, zielt darauf ab, das Strafgesetzbuch dahingehend zu ergänzen, dass die öffentliche Verwendung oder Verbreitung von rassistischen Symbolen, nationalsozialistischen Symbolen im Besonderen, mit Busse bestraft werden, auch wenn diese ohne Werbecharakter präsentiert werden. Eine Ausnahme soll hier für die öffentliche Verwendung oder Verbreitung solcher Symbole zu wissenschaftlichen oder
schutzwürdigen kulturellen Zwecken gelten.

4. Interview mit dem Extremismusexperten Samuel Althof über die Macht von rassistischen Symbolen und ihrer Reichweite

Interview mit dem Extremismusexperten Samuel Althof

Welchen Stellenwert nehmen Symbole ein, in extremistischen Kreisen?

Symbole sind für extremistische Gruppen ein wichtiger Bestandteil. Sie bieten Wiedererkennungswert, sie dienen der Abgrenzung und sie erzeugen einen äusserst wichtigen Binnendruck nach innen und haben somit grosse Kraft, die Gruppe zusammenzuhalten. Sie bergen also auch ein grosses Identifikationspotential.

Um was für Symbole handelt es sich? Lassen sich da bestimmte Muster erkennen?

«Klassische» Symbole der rechtsextremen Szene, wie etwa das Hakenkreuz oder die Rune, werden meist in abgewandelter Form weiterverbreitet. Dieses Phänomen macht denn auch die Frage der Strafbarkeit so komplex. Die Symbole sind also einerseits in konstantem Wandel, andererseits bleibt aber meist ein bestimmter Bezug zu den bekannten Symbolen, da damit eben auch eine gewisse «Abstammungslinie» gewahrt wird.

Wenn man von extremistischen Symbolen spricht, denken die meisten Menschen direkt an Hakenkreuze oder andere bekannte Symbole aus der rechtsextremen Szene. Wie relevant sind Symbole für linksextreme Kreise??

In beiden Szenen spielen Symbole eine wichtige Rolle. In der linksextremen Szene scheint aber eine grössere Konstanz oder Systematik zu herrschen. Dieselben Farbkonzepte und Logos werden kongruenter verwendet. Rechtsextreme Gruppierungen erscheinen fraktionierter. Dies hat sehr viel mit dem strafrechtlichen Verfolgungsdruck zu tun, der auf illegaler rechtsextremer Symbolik lastet. Die Gruppen wandeln Ihre Symbole immer wieder um oder erfinden diese bis zu einem gewissen Grad neu. Viele Klein- oder Untergruppen haben dann wiederum eigene Namen und ein eigenes «Logo». Diese Gruppen verschwinden meist so schnell, wie sie auch gekommen sind. Ihre «Lebensdauer» ist kurz.

Wo begegnet man diesen Symbolen? In welchen Räumen werden sie verbreitet?

Es lässt sich ein gewisses Wechselspiel zwischen dem Internet und der «realen» Welt feststellen. Die Symbole werden in Aktionen medienwirksam in Szene gesetzt. Das Ganze wird gefilmt und dann ins Internet gestellt, wo die Videos und Posts wiederum geteilt und gelikt werden. Im «besten» Fall berichten die Medien dann noch darüber und generieren damit noch mehr Aufmerksamkeit. Ein aktuelles Beispiel aus dem letzten Jahr: einige Jugendliche rollen, an einer exponierten Stelle, auf der Kornhausbrücke in Bern ein grosses Banner aus. Sie filmen und inszenieren sich dabei. Solche Stunts werden dann umgehend ins Internet gestellt und mittels YouTube verbreitet.

Wo sehen sie den Bezug zu den seit der Pandemie wieder weitverbreiteten Verschwörungsmythen?

Symbole sind ein zentrales Element der Kommunikation von Verschwörungstheorien. Denn genau wie die Verschwörungserzählungen selbst simplifizieren sie Sachverhalte in einfachen Grafiken. Damit wird in Gut und Böse kategorisiert, in dazugehörig und fremd. Gerade am Anfang der Pandemie kam es zu einer rasanten Verbreitung solcher Bilder auf Kommunikationskanälen wie Telegram. In der realen Welt hat das Symbol, des von den Nazis erfundenen gelben Davidsterns, mit der Aufschrift «ungeimpft», durch die Coronademonstrationen, eine grosse Polarisation und leider auch eine Schein- Opfer-Identifikation hervorgebracht. Sie sehen also, die Wirkung von Symbolen und was sie bei den Menschen auslöst sollte nicht unterschätzt werden.

Extremismusexperte Samuel Althof

Extremismusexperte Samuel Althof

Zur Person:
Samuel Althof ist Leiter der Fachstelle für Extremismus- und Gewaltprävention. Er führt zudem eine Praxis für psychologische Beratung in Basel, das «Büro für innere und äussere Angelegenheiten». Seit über 20 Jahren engagiert er sich gegen Rassismus im Internet und hilft bei Entwicklungen von Strategien im Umgang mit Rechts- und Linksextremisten.

 

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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