Die Wohnungskrise prägt das Leben der etwa 10’000 Sans-Papiers in Zürich besonders stark. Dennoch bleiben sie als Betroffene weitgehend unsichtbar. Über die Wohnerfahrungen einer Sans-Papier und die erschwerten rechtlichen Bedingungen in der Schweiz.

In den vergangenen Wochen wurde die mediale Aufmerksamkeit verstärkt auf Muslim:as in der Schweiz gerichtet. Zu einem als zum einen eine Kassiererin bei Coop kündigte, weil ihr das Tragen des Kopftuchs untersagt wurde, und zum anderen als Fotos uniformierter Angehöriger der Armee veröffentlicht wurden, die umgeben von ihren Kollegen das muslimische Festgebet anlässlich des Opferfests verrichteten. Diese Ereignisse haben Diskussionen über die Angemessenheit der Handlungen der Beteiligten ausgelöst.

 

Als grundlegendes Gesetz gilt die Bundesverfassung als Fundament unseres Rechtssystems. Die gesamte Rechtsordnung sollte im Einklang mit der Verfassung gestaltet und ausgelegt werden. In ihrer Einleitung, der Präambel, finden wir eine Zeile, die heute besonders relevant ist: “Im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben.”

 

Die Gemeinsamkeit beider Geschichten besteht darin, dass sie Reaktionen auf die Vielfalt in der Schweiz sind. Allerdings könnten diese Reaktionen nicht unterschiedlicher sein. Während die Schweizer Armee ihre innere Vielfalt achtete und als integralen Bestandteil der gesamtschweizerischen Einheit betrachtete, versuchte Coop ein Bild homogener Einheit zu vermitteln, indem sie die Ausdrucksform der Vielfalt aus dem sichtbaren Bereich verbannte.

 

Wird die Gesellschaft als Zusammensetzung aus einer Mehrheit und verschiedenen Minderheiten betrachtet, und zwar Minderheiten, die sich den Vorgaben der Mehrheit fügen müssen, entsteht eine eindimensionale Sichtweise auf das soziale Leben, die den innergesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet.

 

Als Gesellschaft Minderheiten Schweiz erkennen wir, dass jeder Mensch einzigartig ist und in bestimmten Aspekten seiner Persönlichkeit einer Minderheit angehört. Ein friedliches Zusammenleben dieser vielfältigen Minderheiten zu ermöglichen, ist eine grundlegende Aufgabe des Staates und der Rechtssetzung. Dennoch liegt die Hauptverantwortung auf den Schultern der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft. Sie tragen mit ihrem Verhalten dazu bei, die Rechtsordnung zum Leben zu erwecken und den gesellschaftlichen Frieden zu wahren.

 

Es liegt an jedem einzelnen von uns, die gesellschaftliche Solidarität zu fördern und sicherzustellen, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Religion, Ethnie oder anderen Merkmalen gleichberechtigt und respektiert werden. Jeder Einzelne von uns kann und soll dazu beitragen, Stereotype und Vorurteile zu hinterfragen, Vorurteile abzubauen und eine Kultur des Respekts und der Anerkennung zu fördern.

 

 

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Standpunkte

Die Demokratie-Initiative der Aktion Vierviertel packt mit der Demokratie-Initiative ein wichtiges Anliegen zur Verbesserung der Teilhabe an der Schweizer Demokratie an. Das ist auch für Angehörige der Minderheiten in der Schweiz relevant, besitzen doch viele von ihnen (noch) keinen Schweizer Pass.

 

Ausschluss der sogenannten Ausländer:innen

Heute ist ein beachtlicher Teil der Schweizer Bevölkerung von den demokratischen Prozessen ausgeschlossen: die Personen ohne Schweizer Pass. In Schweizer Städten verfügen durchschnittlich 34% der Bewohner:innen über keinen Schweizer Pass. Sie sind hier geboren, als Kinder in die Schweiz gekommen oder als Erwachsene eingewandert. Sie sind in der Schweiz zu Hause und haben hier ihren Lebensmittelpunkt. Aber politische Rechte haben sie nicht. Das betrifft 2.2 Millionen von den insgesamt 8,8 Millionen Menschen, die in der Schweiz leben. Dieser Viertel ist juristisch gesehen ausländisch und ihnen ist das Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene verwehrt.

 

Das heutige Einbürgerungsverfahren ist wesentlich schuld daran

Diese demokratiepolitisch unbefriedigende Situation ist auch eine Folge willkürlicher und ausgrenzender Einbürgerungspolitik. Wir kennen kein Jus Solis, das heisst die Verleihung der Staatsangehörigkeit auf Grund des Geburtsortes. Selbst Angehörige der Dritten Generation müssen sich immer noch einem Einbürgerungsverfahren unterziehen, das zwar als erleichtert bezeichnet wird, aber immer noch grosse Hürden aufweist. Nach wie vor ist es in der Schweiz europaweit am schwersten, eingebürgert zu werden. Es gibt haarsträubende Geschichten über abgelehnte Einbürgerungsgesuche, zum Beispiel von Anja, die abgelehnt wurde, weil sie nicht wusste, in welchem Jahr das Cern gegründet wurde oder was das aktive und passive Wahlrecht sind. Oder Uvejsa, die abgelehnt wurde, weil sie nicht wusste, dass der höchste Berg auf dem Gemeindegebiet von Schübelbach nicht der Hausberg, sondern ein von der Ortschaft weit entfernter Berg ist. Oder ein 15-Jähriger aus dem Kanton Aargau, weil er sein Töffli frisiert hatte…

Diese Politik führt dazu, dass prozentual immer weniger Menschen Entscheide fällen, die für immer mehr Personen gelten, ohne dass sich diese dazu äussern können. So gerät die Demokratie in Schieflage, denn es ist für ein direkt demokratisches Land wie die Schweiz, das von der aktiven Beteiligung der Stimmberechtigten auf allen Ebenen des Gemeinwesens lebt, eine schlechte Entwicklung.

 

Lösungsvorschlag aus dieser unhaltbaren Situation

Um diesem störenden Demokratiedefizit ein Ende zu bereiten, setzt die Demokratie-Initiative bei der Einbürgerung an. Wer seit fünf Jahren rechtmässig in der Schweiz lebt, soll einheitlich das Recht auf Einbürgerung erhalten, wenn er oder sie konkrete Kriterien erfüllt. Heute können Kantone und Gemeinden über das Bundesrecht hinausgehende Voraussetzungen für die Einbürgerung festlegen. Dadurch werden unterschiedliche und oft subjektive Kriterien für eine Einbürgerung verlangt. Mit der Demokratie-Initiative wird die heute oft anzutreffende Willkür unterbunden und das Einbürgerungsverfahren schweizweit harmonisiert.

Dafür wird der Artikel 38 Absatz 2 der Bundesverfassung wie folgt geändert:

[Der Bund] erlässt Vorschriften über die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern. Anspruch auf Erteilung des Bürgerrechts auf Gesuch hin haben Ausländerinnen und Ausländer, die:

  1. sich seit fünf Jahren rechtmässig in der Schweiz aufhalten;
  2. nicht zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt worden sind;
  3. die innere und äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährden; und
  4. Grundkenntnisse einer Landessprache haben.

 

Wer steht hinter dieser Initiative?

Die Initiative wurde von der Aktion 4/4 lanciert. Es sind Menschen aus der Zivilgesellschaft, die sich beruflich und privat mit Themen rund um Migration, Demokratie, Politik, gerechte Gesellschaften und gleichberechtigte Teilhabe in der Schweiz beschäftigen. Sie fordern, dass Bund, Kantone und Gemeinden Einbürgerungen im Interesse einer echten Demokratie aktiv fördern sollen. Das heutige Verfahren ziele auf Selektion und beruhe auf dem Verdacht, dass jemand etwas verlangen könnte, das ihm oder ihr nicht zusteht. Diese Haltung müsse sich ändern. In der Schweiz lebende Menschen, die noch keinen Pass haben, sollen willkommen geheissen, unterstützt und zur Einbürgerung eingeladen werden. Eine wirksame Fördermassnahme sei zum Beispiel, auf Gebühren zu verzichten.

Das Initiativ-Komitee verlangt objektive Kriterien und faire Verfahren. Veraltete, unsachliche und willkürliche Kriterien sollen abgeschafft werden, zum Beispiel kantonale und kommunale Wohnsitzfristen, welche sich heute nicht mehr rechtfertigen lassen. Auch sei es diskriminierend, wenn Menschen, die Sozialhilfe beziehen müssen, das Bürgerrecht verwehrt bleibe. Die Einbürgerung müsse von einer Verwaltungsbehörde in einem schnellen und günstigen Bewilligungsverfahren erteilt werden. Eine weitere Forderung ist, dass wer in der Schweiz geboren wird, den Schweizer Pass erhält. Eine solche fortschrittliche Regelung sorge für gleiche Chancen für alle hier geborenen Kinder, trage der Vielfalt der Bevölkerung Rechnung und helfe der Schweiz, auch künftig eine lebendige Demokratie mit einem Gleichheits- und Gerechtigkeitsanspruch zu sein.

 

 

Weiterführende Informationen

Demokratie Initiative (demokratie-volksinitiative.ch)

Aktion Vierviertel – Für ein Grundrecht auf Einbürgerung

 

 

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Standpunkte

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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