Beitrag von Dr. Yeboaa Ofosu

 

Der Ruf nach Diversifizierung unserer Institutionen ist da und deutlich hörbar. Lange hiess Diversifizierung hauptsächlich Frauenförderung und es konnte reichen, auf eine (wortreiche oder stumme) Gleichstellungsbeauftragte und deren Pflichtenheft zu verweisen. Doch mittlerweile sind ganz andere Aspekte von Identität in unser Blickfeld gerückt. Keine öffentliche oder private Institution kann heute ernsthaft ausschliesslich Frauenförderung als Antwort auf Diversitätsforderungen nennen oder betreiben. Der Schritt aus diesem Feld heraus scheint allerdings schwierig. Und tatsächlich birgt er einigen Zündstoff.

 

Frauen sind keine Minderheit. Und ihre vermehrte Anstellung in den Betrieben ist relativ einfach, auch angesichts der stark gestiegenen Frauenanteile in Lehrbetrieben und an Universitäten. Heute geht es um den Einbezug echter Minderheiten und darum, eine Diskussion über und mit Minderheiten zu führen und deren Forderungen ernst zu nehmen. Und insbesondere geht es um die Frage, wie umzugehen ist mit Forderungen, die gänzlich andere (soziale, gesundheitliche, persönliche) Aspekte der Identität in die Diskussion bringen, als die Mehrheit es sich gewohnt ist.

 

In diesem Zuge lässt sich erkennen, dass es ältere und neuere Minderheiten gibt: Der Einbezug körperlich beeinträchtigter Menschen ist in unserem Land zwar noch nicht zufriedenstellend verwirklicht; als eine allen bekannte Minderheit findet sie allerdings breite Akzeptanz. Beeinträchtigung als Grund der Zugehörigkeit zu einer Minderheit löst bei der Mehrheit Empathie aus. Man unterstützt, dass sich die Gesellschaft dieser Menschen annimmt. Solches ist bei manchen neueren Minderheiten nicht der Fall. Die Gesellschaft tut sich zum Beispiel schwer, wenn es um die Integration anderer Geschlechteridentitäten geht; umso mehr, wenn es darum geht, unsere Institutionen dahingehend zu diversifizieren. Das umtriebige Internet nennt am heutigen Tag 72 Geschlechteridentitäten und verwendet dabei Begriffe, die den meisten Menschen unbekannt oder unvorstellbar sind. Wie umgehen also mit Forderungen, die für viele fremd bis abstossend klingen, überzogen scheinen, und die die persönlichen Werte angreifen oder Angst auslösen? Oder wie umgehen mit Forderungen, dass nichtweisse Personen safe spaces benötigen zum Rückzug aus dem rassistischen Terrain der allgemeinen Öffentlichkeit? Wie überdies umgehen mit dem Wettbewerb unter diesen neueren Minderheiten, Minderheiten, die wir bisher gar nicht als solche erkannt und schon gar nicht berücksichtigt oder anerkannt haben? Und wie schliesslich umgehen mit den Reaktionen derer, die auf die Skepsis der überforderten Mehrheit reagieren?

 

Betrachten wir einmal das Thema Toilette: all die neuen Schilder in Restaurants, auf Hochschulgängen und in Theatern, die entstanden sind als Reaktion auf die Forderung nach Aufhebung der binären Toilettenordnung. Diese Neuerungen realisieren sich durch Wortschöpfungen und bedeutungsvolle Zeichen, die uns klar machen, wer welche Türe aufzustossen hat. Gefordert sind drei statt zwei Nassräume oder aber der Zugang beider Nassräume für alle wie auch immer gelagerten Geschlechter. In den Reaktionen (und Nichtreaktionen) auf diese Forderungen unterscheidet sich übrigens deutlich Stadt und Land, und es outen sich sowohl kreative Geister wie auch Menschen, die Angst vor diesen Neuerungen haben. Eine Lösung, die allen entspricht, scheint kaum möglich.

 

Welche Aspekte der Identität lassen sich in eine Diskussion einbringen? Verstehen wir Identität als das Ureigene oder als dasjenige, was wir mit anderen (wenn auch nicht allen) teilen? Wie viele Personen braucht es, um eine Minderheit zu sein? Gibt es mehr oder minder wertvolle Minderheiten? Wie wollen wir gerecht urteilen, ob die eine Spezifik der Identität gravierender ist als eine andere?

 

Es scheint, als hätten wir lange klare Verhältnisse gehabt zwischen der Mehrheit und den älteren Minderheiten. Minderheiten hatten ihre überschaubare Zahl, sie waren erkennbar, benennbar, sie waren Grund für Mitleid oder Ablehnung und hatten mehr oder weniger die Aufmerksamkeit der Mehrheit. Gerne hat die Mehrheit den Umgang mit ihnen auch an Interessensvertretungen delegiert. Denn einige von ihnen haben eine Lobby. Sie hatten jedenfalls einen klar definierten Anteil an der Diskussion.

 

Minderheitenschutz

Da dieses Verhältnis nun aufbricht und mehr Menschen Teil sind der Diskussion, ist die Mehrheit stark gefordert. Identitätspolitik ist zum Schimpfwort geworden: zurecht dort, wo sie überzogene und undemokratische Einzelforderungen stellt; zu Unrecht dort, wo wir wissen sollten, dass am Anfang jeder Politik Identitätspolitik steht. Wie wären wir denn sonst zum Frauenstimmrecht gekommen? Wie wären körperlich Beeinträchtigte zu mehr Gleichberechtigung oder Zugang zu unseren Städten und zum ÖV gekommen? Wie auch immer wir eingestellt sind, sollten wir uns daran erinnern, dass wir dem Minderheitenschutz verpflichtet sind. Wir müssen Minderheiten schützen. Sie sind oftmals Opfer, gar systematisch. Haben wir aber das Recht auf die eben beschriebenen Vorbehalte gegenüber diesen neueren oder uns neu erscheinenden Minderheiten in der Gesellschaft?

 

Minderheitenregime

Hier hilft nun der Begriff des Minderheitenregimes. Er beschreibt den Vorgang, dass eine Minderheit der Mehrheit Regeln vorgibt. Und er führt augenblicklich zur Frage, ob eine Minderheit dazu berechtigt ist. Diese Frage provozieren insbesondere die neueren Minderheiten, die lauter und fordernder auftreten, als die Mehrheit es kennt, mit Aspekten der Identität, deren Relevanz nicht alle teilen. Und da gelangen wir auch schon zum Wettbewerb unter den Minderheiten, bei dem die alt hergebrachten Minderheiten sich nicht mehr verstanden fühlen. So entstehen Polarisierungen, obwohl wir alle wissen, dass Polarisierung keine gute Grundlage für Lösungen in schwierigen Situationen ist. Wir wissen, dass aus dieser aufgeheizten Stimmung heraus der gebotene Minderheitenschutz wohl kaum realisiert wird. Wie denn, wenn aus der Polarisierung heraus grosse Teile der Gesellschaft damit beschäftigt sind, sich gegen dasjenige zu wehren, was der Begriff Minderheitenregime meint. Eine schwierige Situation!

 

Was ist geraten?

Einige Menschen und Institutionen haben bereits auf gute Weise das Problem angepackt und vorwärtsgemacht. Deshalb verfügen wir langsam über practice – sie ist teils bereits best practice, teils ist sie es noch nicht. Darauf gilt es, uns zu konzentrieren: auf die Weiterführung des Diskurses. Innehalten im Streit. Innehalten in der Polarisierung. Heraus aus der Stagnation. Weg von Ideologie. Diese practice findet sich in Theaterhäusern, in Abteilungen unscheinbarer KMUs, in Museen, im Gemeindezentrum und auf dem Bundesamt. Und deshalb ist dies mein Aufruf: Bitte kommuniziert diese practice! Was genau sind diese Beispiele? Wie funktionieren sie? Welche Probleme waren da? Was hat sich wie zum Guten gewendet? Was ist die Institution nach diesem Wandel? Was ist nicht ratsam? Und warum nicht? Und was war das, worüber einmal plötzlich alle lachen mussten?

 

Dr. Yeboaa Ofosu, Kulturwissenschaftlerin

Dr. Yeboaa Ofosu ist promovierte Kulturwissenschafterin. Sie arbeitet seit 2006 an der Hochschule der Künste Bern HKB. Zwischen 2014 und 2022 war sie hauptberuflich am Migros-Kulturprozent (MGB) tätig, seit 2021 amtet sie Präsidentin des Schlachthaus Theater Bern

 

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Standpunkte

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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