Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

Der Standpunkt als PDF

Verschwörungserzählungen gibt es seit Jahrhunderten, oft dienten sie als Erklärungen für Phänomene, die sich die Menschen nicht erklären konnten und die sie ängstigten. In neuester Zeit grassieren sie auf beunruhigend hohem Niveau wieder neu. Die Corona-Pandemie war ein erster grosser Trigger. Die aktuellen Kriege und ihre unabsehbaren Folgen für die ganze Welt tragen das ihre dazu bei, dass diese Narrative immer schlimmere Blüten treiben. Den Verschwörungserzählungen ist eines gemeinsam: der Glaube an eine heimliche grosse Macht, die alles steuert und alles Übel verschuldet. Je unübersichtlicher die Welt und je dramatischer die Lage, umso anfälliger sind viele Menschen für diese einfachen Erklärungen.

 

Diese heimliche Macht wird in den meisten Verschwörungsnarrativen den Juden zugeschrieben. Der Antisemitismus dient als verbindendes Element, der als gemeinsamer Nenner verschiedene Verschwörungserzählungen miteinander verknüpft.

Das ist nicht neu, gab es doch schon im Mittelalter Ideen einer jüdischen Verschwörung gegen die Christenheit. Es gab Anschuldigungen gegen über der jüdischen Bevölkerung wegen angeblicher Brunnenvergiftungen, Ritualmorden, Hostienfrevel und anderen Ungeheuerlichkeiten. In neuere Zeit kam der Mythos der jüdischen Weltverschwörung auf und das sogenannte Weltjudentum wurde für die modernen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen und die damit verbundenen Existenzängste verantwortlich gemacht.

Um 1903 tauchte zum ersten Mal das antisemitische Machwerk «Die Protokolle der Weisen von Zion» auf und diente den Nazis als Hetzschrift gegen die den Juden und Jüdinnen unterstellte Weltherrschaft. Sie verschrien das «Weltjudentum» als Drahtzieher sowohl für den Finanzkapitalismus wie auch für den Bolschewismus. In einem Aufsehen erregenden Prozess, der vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) in der Schweiz angestrengt worden war, wurde die Schrift 1935 als Fälschung entlarvt.

 

Solche Clischés wirken bis heute nach und tauchen in unterschiedlichen Formen immer wieder auf.

Sie erhalten Nahrung durch die weltweite Vernetzung, die Globalisierung. Diese macht die Entwicklungen und Entscheide der Wirtschaft und anderer global tätiger Organisationen für viele Menschen undurchschaubar und unheimlich. Da bietet sich das Narrativ der Weltherrschaft geradezu an, um die als Zerstörung nationaler, politischer und kultureller Identität empfundene Entwicklungen durch «globale Eliten» anzuprangern.

 

Zsolt Balkanyi, der Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus GRA sagte kürzlich in einem Interview, dass solche Vorstellungen und stereotype Vorurteile von einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung in den tiefen gesellschaftlichen Schichten lauern würden und dort konserviert seien und dass sie durch den Krieg in Gaza getriggert und an die Oberfläche  schwappen würden. Durch die sozialen Medien werden solche Narrative heute weltweit unglaublich schnell verbreitet. Balkanyi nennt den heutigen Antisemitismus altes Gift in neuen Schläuchen und bezeichnet ihn als eine demokratiezersetzende Kraft. Deshalb ist es wichtig, dass sich alle an demokratischen Gesellschaften interessierten Menschen gegen den Antisemitismus engagieren.

Philip Bessermann, der Geschäftsführer der GRA schreibt, dass in vielen Fällen Juden und Jüdinnen als Sündenböcke für komplexe politische, wirtschaftliche oder soziale Probleme dargestellt werden. Diese Vorstellungen schaffen eine einfache Erklärung für komplexe Phänomene und schüren Misstrauen gegenüber der jüdischen Gemeinschaft, wodurch antisemitische Einstellungen verstärkt werden. Letztendlich fungiert der Antisemitismus als Klebstoff, der verschiedene Verschwörungstheorien zusammenhält und ihnen eine gefährliche Kohärenz verleiht.

 

Dass das bedrohlich für jüdische Menschen werden kann, zeigt die lebensbedrohliche Messerattacke auf einen Juden in Zürich von anfangs März. Diese Zusammenhänge aufzuzeigen und über Strategien dagegen nachzudenken und aufzuklären ist Aufgabe der GMS.

Der Standpunkt als PDF

Die begrüssenswerte Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Wa Baile für sog. Racial Profiling bei einer Personenkontrolle stellt einen entscheidenden Moment für die Schweiz dar. Letztere steht nun in der Pflicht, konkrete und wirkungsvolle Massnahmen zu ergreifen, um rassistische Polizeikontrollen in Zukunft effektiv zu verhindern. Sie hat aber auch den Moment, gesamtgesellschaftliche Massnahmen gegen institutionellen und strukturellen Rassismus zu ergreifen.

 

Was ist Racial Profiling?

Der Begriff Racial Profiling bezeichnet alle Formen diskriminierender Kontrollen gegenüber Personengruppen, die von Verwaltungsbeamt:innen als ethnisch oder religiös «anders» wahrgenommen werden. Im Schweizer Kontext sind neben People of Color auch Personen aus der Balkanregion (insbesondere Rom:nja) sowie aus arabischen Ländern und Muslim:as von ungerechtfertigten polizeilichen Kontrollen betroffen. Profiling bezeichnet die gezielte Kategorisierung von Menschen. Problematisch wird es, wenn diese Methode diskriminierend erfolgt. Dies ist der Fall, wenn das Verhalten der kontrollierten Person keinen Anlass für eine Personenkontrolle gibt, die kontrollierte Person aufgrund ihres Aussehens von den Beamt:innen als «fremd» wahrgenommen wird und kein sachlicher Grund für eine Kontrolle vorliegt. In der Schweiz hat die Polizei unter anderem die Aufgabe, ausländerrechtliche Massnahmen durchzusetzen. Dies macht es in der Realität oft schwierig nachzuweisen, ob es sich um ungerechtfertigtes, also rassistisches Profiling handelt oder nicht. In der Praxis kommt Racial Profiling vor allem im Zusammenhang mit Personenkontrollen durch Polizei und Grenzschutz vor.

 

Zum Sachverhalt

Mohamed Wa Baile wurde vor neun Jahren am Hauptbahnhof Zürich einer Personenkontrolle unterzogen. Der zuständige Polizist gab später als Grund an, Herr Wa Baile habe den Blick von ihm abgewandt, woraus sich der Verdacht eines ausländerrechtlichen Vergehens ergeben habe. Herr Wa Baile, der die Kontrolle als rassistisch empfand, weigerte sich, seine Personalien anzugeben. Dafür wurde er mit einer Busse bestraft. Das Bundesgericht bestätigte im Jahr 2018 die Verurteilung von Mohamed Wa Baile durch das Zürcher Obergericht. Herr Wa Baile erhob dagegen Beschwerde beim EGMR in Strassburg. Der strategische Prozess wurde von der Allianz gegen Racial Profiling organisiert und von Amnesty International sowie der Open Society Justice Initiative unterstützt.

 

Zum Urteil

Der EGMR entschied, dass die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in dreifacher Hinsicht verletzt hat. Erstens sei Wa Bailes aufgrund Art und Weise, wie die Personenkontrolle durchgeführt worden sei, wegen seiner Hautfarbe diskriminiert worden. Zudem hätten die Schweizer Instanzen nicht ausreichend geprüft, ob bei der Kontrolle diskriminierende Gründe eine Rolle gespielt haben könnten. Darüber hinaus bemängelte der EGMR, dass Wa Baile kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe.

 

Umsetzung

Die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz begrüsst dieses Urteil! Denn der Fall Wa Baile stellt ein wegweisendes Urteil für den europäischen Menschenrechtsschutz dar. Die Schweiz – und mit ihr alle anderen Mitgliedstaaten der EMRK – müssen wirkungsvolle Vorkehrungen treffen, um Racial Profiling in Zukunft effektiv zu verhindern. Es muss ausserdem möglich sein, im Nachhinein von Personenkontrollen zu prüfen, ob diskriminierende Motive vorlagen. Verantwortlich für die Umsetzung sind Parlamente, Regierungen, Verwaltungen, Justiz und Polizei. In der Schweiz ist die Polizeiarbeit kantonal organisiert und geregelt. Daher liegt es nun vor allem an den Sicherheitsdirektor:innen und ihren Departementen, wirksame Massnahmen gegen diskriminierendes Profiling zu treffen. Dazu gehören insbesondere konkrete Richtlinien zur Vermeidung von «Racial Profiling», die deren rechtliche Durchsetzbarkeit sicherstellen, sowie die Integration des Themas in die polizeiliche Ausbildung und regelmässige Sensibilisierungsmassnahmen im Polizeikorps. Zu denken ist auch an die Einrichtung unabhängiger Meldestellen für Fälle von «Racial Profiling», die Einführung von Quittungen für Personenkontrollen, die Ausstattung von Polizist:innen mit Körperkameras zur Dokumentation von Vorfällen und die Sicherstellung einer unabhängigen Beobachtungsstelle für Vorfälle im Polizei- und Justizbereich.

 

Bedeutung

Die Schweizer Demokratie geniesst national und international einen hohen und besonderen Stellenwert. Umso bitterer ist es, wegen der Verletzung von Grund- und Menschenrechten verurteilt zu werden. «Racial Profiling» untergräbt zahlreiche wichtige Werte des demokratischen Rechtsstaates wie das Diskriminierungsverbot, die Gleichbehandlung, den Zugang zu chancengleicher gesellschaftlicher Teilhabe und das Vertrauen in staatliche Institutionen. Die schweizerische Demokratie muss geschützt werden und ihre Erhaltung erfordert deshalb eine entschiedene und umfassende Aufarbeitung der Themen «Racial Profiling» im Speziellen und diskriminierende Praxen von Polizei und Justiz im Allgemeinen. «Racial Profiling» muss als Teil des institutionellen und strukturellen Rassismus in einer gesamtgesellschaftlichen Dimension bekämpft werden.

Der Standpunkt als PDF

Ein lesenswertes Interview mit dem Ombudsmann der Stadt Zürich Pierre Heusser über die Verurteilung der Schweiz durch den EGMR in einem Fall von Racial Profiling und den Konsequenzen, welche die Behörden aus dem Urteil ziehen können bzw. müssen

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
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