3 + ½ = 3: Die besondere Arithmetik der Schweizerischen Sprachpolitik
01.04.2022

Welchen bedeutenden Entscheid für das Rätoromanische fällte das Schweizerische Stimmvolk 1938? Und weshalb ergibt seit 1996 in der Sprachpolitik 3 + ½ in den meisten Fällen 3? Eine kleine Tour d’Horizon rund um die oft vergessene und dabei schweizerischste aller Landessprachen.

 

Am 20. Februar 1938 fällte das Schweizer Stimmvolk einen für die rätoromanische Sprache denkwürdigen Entscheid. Es erhob das Rätoromanische mit 91,6% Ja-Stimmen zur Nationalsprache. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die hohe Zustimmung nicht nur sprachpolitische Beweggründe hatte. Im Zuge der geistigen Landesverteidigung vor dem Zweiten Weltkrieg war der Entscheid auch eine dezidierte Absage an nationalistische Tendenzen Italiens, das eine Angliederung rätoromanisch- und italienischsprachiger Gebiete der Schweiz im Sinn hatte. Bis heute geblieben ist die bedeutende Verankerung des Rätoromanischen in Artikel 4 der Bundesverfassung: Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.

 

Happy End? Fast. Wäre da nicht die Crux mit der Unterscheidung zwischen Landessprache und Amtssprache. Knapp 60 Jahre nach der Volksabstimmung von 1938 doppelte Helvetia nach: Am 10. März 1996 wurde eine Revision des Sprachenartikels in der Bundesverfassung mit 76% Ja-Stimmen angenommen. Dieser Entscheid verleiht dem Rätoromanischen den Status einer Teilamtssprache des Bundes. Der Sprachenartikel in der Bundesverfassung hält fest, dass «im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes» ist. Die weiteren Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch.

 

Landessprache ohne Podestplatz

Eine integrale Bereitstellung der gesamten schriftlichen Kommunikation des Bundes auf Rätoromanisch wäre unrealistisch und zudem nicht sinnvoll. Rätoromanisch ist zwar Landessprache, jedoch nur Teilamtssprache des Bundes, sozusagen eine halbe Amtssprache. Texte von besonderer Tragweite sowie die Unterlagen für eidgenössische Wahlen und Abstimmungen sollen gemäss Sprachengesetz auch in Rätoromanisch veröffentlicht werden. Und nicht zu vergessen sind die Texte «im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache». Ein Beispiel: Eine Bürgerin schreibt einen Brief auf Rätoromanisch an die Bundesverwaltung. Der Fall ist klar, die Antwort erfolgt auf Rätoromanisch. Bravo! Zweites Beispiel: Das Bundesamt für Gesundheit lanciert eine grosse schweizweite Kampagne gegen die Ausbreitung des Coronavirus, verfasst in allen … – Falsch! Es brauchte politischen Druck, um die Herausgabe von wesentlichen Informationen der Corona-Kampagne auf Rätoromanisch zu erwirken. Der Grundsatz scheint zu sein, dass alles in den drei vollwertigen Amtssprachen herausgegeben wird und erstmal explizit nicht in der Teilamtssprache. Im Grunde ist es eine arithmetische Frage. Den Rechenfehler, den der Bund bei der Interpretation der ½ Amtssprache Rätoromanisch begeht, ist, dass er den Faktor 0.5 in fast allen Fällen abrundet. In der Konsequenz ergibt dies das omnipräsente Bild der dreisprachigen Schweiz. Internetseiten, Publikationen und Beschriftungen werden in Deutsch, Französisch und Italienisch verfasst. Das Rätoromanische gerät zunehmend in Vergessenheit. Es braucht ein Umdenken. Die Landessprache auf dem undankbaren vierten Platz hätte zumindest eine lederne Medaille verdient. Wie könnte ein sinnvoller Umgang mit der ½ Amtssprache aussehen? Der Bund sowie öffentliche Dienstleister, z.B. Post und SBB, die national agieren, müssten Rätoromanisch gesamtschweizerisch konsequent bei Beschriftungen aller Art verwenden. Dies dort, wo die anderen drei Amtssprachen der Schweiz aufgeführt werden. Im rätoromanischen Sprachgebiet muss die Sprache prioritär für Informationen an die Bevölkerung eingesetzt werden.

 

Bedroht trotz guter Rechtsstellung

Laut einem im Jahr 2019 erschienenen Evaluationsbericht im Auftrag des Bundes besteht für das Rätoromanische bereits mittelfristig die Gefahr einer existenziellen Bedrohung. Der Bericht empfiehlt u.a. eine vermehrte Förderung des Rätoromanischen ausserhalb des traditionellen Verbreitungsgebiets der Sprache, insbesondere die Bereitstellung von Bildungsangeboten auch ausserhalb des Kantons Graubünden. Im Rahmen der Kulturbotschaft 2021-24 wendet der Bund insgesamt rund 21 Mio. für das Rätoromanische auf. Erstmals entrichtet der Bund in dieser Periode Beiträge in der Höhe von 1,2 Mio. für Fördermassnahmen ausserhalb des angestammten Sprachgebiets. Ein Vorhaben verdeutlicht sinnbildlich die grossen Anstrengungen, das Rätoromanische auch an die nächste Generation weiterzugeben. Mit einem neuen online zugänglichen Bildungsangebot, genannt «Rumantsch a distanza» (Rätoromanisch im Fernunterricht), sollen Jugendliche auch ausserhalb des rätoromanischen Sprachgebiets ab dem Schuljahr 2023/24 die Sprache erlernen können. Aber wird die Förderung fruchten, wenn das Rätoromanische nirgends auf der Sprachlandkarte der Schweizer Bevölkerung erscheint? Präsenz im Alltag ist der Schlüssel: Der Bund sowie öffentliche Dienstleister auf nationaler Ebene sind gefordert und aufgefordert, nachzuziehen. Und dann ist auch klar, was die sprachpolitisch-arithmetische Gleichung 3 + ½ in der viersprachigen Schweiz ergibt. Auf jeden Fall mehr als 3.

 

Rumantsch – fünf Idiome, eine Sprache

Das Rätoromanische gliedert sich in fünf verschriftlichte Idiome (Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Puter und Vallader) und verfügt über eine Standardschriftsprache, das Rumantsch Grischun. Rund 60’000 Personen in der Schweiz sprechen die Sprache. Ein Drittel der Romanischsprachigen lebt ausserhalb des Kantons Graubünden. In Gemeinden im rätoromanischen Sprachgebiet ist Rätoromanisch Amts- und Schulsprache. Im Kanton Graubünden sind Rätoromanisch, Deutsch und Italienisch die drei gleichwertigen Landes- und Amtssprachen.

 

 

von Andreas Gabriel, Stellvertretender Generalsekretär der Lia Rumantscha

Die Lia Rumantscha ist die Dachorganisation der rätoromanischen Sprachförderung. Im Auftrag des Bundes und des Kantons Graubünden vertritt sie die Interessen des Rätoromanischen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens.

 

 

Der Standpunkt auf Rätoromanisch: Punct da vista da la GMS – L’aritmetica particulara da la politica linguistica en Svizra 

Der Standpunkt auf Italienisch: Punto di vista GMS – la particolare aritmetica della politica linguistica svizzera 

 

Standpunkte

11.07.2025

Die GMS engagiert sich im Trägerverein des Schweizer Memorials

Was ist das Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus?

Mit dem Schweizer Memorial wird den unterschiedlichsten Opfern des Nationalsozialismus gedenkt. Es versteht sich als Erinnerungsort, Vermittlungsort und Netzwerk in einem.

Seit der Bundesrat im April 2023 entschieden hat, einen Erinnerungsort mit 2,5 Millionen Franken zu errichten, haben, unter Federführung des Eidgenössische Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Vertreter:innen der Stadt Bern, des Schweizerisches Israelitischen Gemeindebunds (SIG) und des Archivs für Zeitgeschichte (AfZ) der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit Fachpersonen intensiv am Projekt gearbeitet und dessen Strukturen aufgebaut und gefestigt.

Der Erinnerungsort ist heute auf der Casinoterrasse in Bern geplant, das «Vermittlungszentrum Flucht» in Diepoldsau.

Ein Trägerverein für das Schweizer Memorial

Seit 2025 gibt es neben des Netzwerkvereins auch den Trägerverein. Ihm obliegt die langfristige Verantwortung für den Erinnerungsort in Bern – insbesondere für dessen Betrieb, Pflege, Sicherheit und dessen Weiterentwicklung. Später kann der Trägerverein eine entsprechen Rolle für das geplante «Vermittlungszentrum Flucht» im St. Galler Rheintal übernehmen. Der Verein versteht sich als Bindeglied zwischen Zivilgesellschaft, Fachwelt und Behörden. Neben dem SIG und dem AfZ ist auch die GMS Mitgründerin des Trägervereins.

Die GMS engagiert sich für ein inklusives, zukunftsgerichtetes Gedenken und bringt ihre
Perspektive auf Minderheitenrechte und Erinnerungskultur ein.

Webseite des Schweizer Memorials
Medienmitteilung Wettbewerbslancierung

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