
Absolutes Bettelverbot: ein Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
Im Januar dieses Jahres hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Urteil gefällt, das in der Schweiz für Aufsehen gesorgt hat: durch die Bestrafung einer bettelnden Roma hat die Schweiz deren Recht auf Privatleben nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Dieser Artikel sagt, dass jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat‑ und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz hat und dass eine Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen darf, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Das Recht auf Privatleben beinhaltet den Anspruch, die eigene Notlage zum Ausdruck zu bringen und andere um Hilfe zu bitten. Ein absolutes Bettelverbot – unabhängig von der individuellen Situation der Armutsbetroffenen – ist unverhältnismässig und verletzt die Europäische Menschenrechtskonvention.
Die Beschwerdeführerin, eine Roma aus Rumänien, verbrachte ab 2011 einige Zeit in Genf. Weil sie keine Arbeit fand, bat sie Passant*innen mehrmals um Almosen. Das Betteln auf den öffentlichen Strassen war in Genf gemäss kantonalem Strafgesetz verboten. Die Betroffene wurde deswegen vom Genfer Polizeigericht zur Zahlung einer Busse von 500 Franken verurteilt. Ihre Beschwerde gegen das Urteil wurde von der zweiten kantonalen Instanz und vom Bundesgericht abgewiesen. Schliesslich gelangte die Betroffene an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Dem Geiste der Europäischen Menschenrechtskonvention liegt das Prinzip der Menschenwürde zugrunde. Dieses hat deshalb auch für das Recht auf Privatsphäre eine Bedeutung. Wenn eine Person nicht über ausreichende Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes verfügt, ist ihre Menschenwürde ernsthaft beeinträchtigt. Durch das Betteln versucht sie, eine unmenschliche und prekäre Situation zu überwinden. Im konkreten Fall war die Beschwerdeführerin extrem arm, Analphabetin, arbeitslos, ohne Sozialhilfe oder Unterstützung durch andere Personen. Durch das Betteln konnte sie ihre Notlage und Armutssituation zumindest ein bisschen lindern. Der Gerichtshof argumentiert, indem die Genfer Behörden das Betteln generell verboten hätten, sei sie daran gehindert worden, mit anderen Personen Kontakt aufzunehmen, um Hilfe zu erhalten und ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Das Recht, andere um Hilfe zu bitten, ist damit als Bestandteil des Kerngehalts von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu verstehen und auf die Beschwerde der Betroffenen anwendbar.
Die von den Behörden vorgebrachten Argumente – die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, Schutz der Rechte von Passant*innen, Anwohnenden und Geschäftsinhabenden – lässt der Gerichtshof in Anbetracht der Schutzbedürftigkeit der Beschwerdeführerin nicht gelten. Zudem habe der UNO-Sonderberichterstatter zu extremer Armut das Motiv, Armut in einer Stadt weniger sichtbar zu machen um Investitionen anzuziehen, aus menschenrechtlicher Sicht als illegitim bezeichnet. Die von den Behörden genannten Ziele stünden damit in keinem Verhältnis zur harten Bestrafung der Beschwerdeführerin, welche über keine anderen Mittel verfügte und für ihr Überleben betteln musste. Der Eingriff verletze ihre Menschenwürde und die Schweiz habe den ihr zustehenden Ermessensspielraum im vorliegenden Fall überschritten.
Schliesslich wären die Schweizer Gerichte in der Pflicht gestanden, die konkrete Situation der Beschwerdeführerin gründlich zu prüfen. Gemäss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte lässt das absolute Bettelverbot jedoch eine Abwägung der betroffenen Interessen von vornherein gar nicht zu und bestraft das Betteln unabhängig davon, wer die ausgeübte Tätigkeit ausübt, wie verletzlich diese Person ist, ob sie zu einem kriminellen Netzwerk gehört oder nicht, um welche Art des Bettelns es sich handelt und wo dieses ausgeübt wird.
Das einstimmige Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist für den Schutz von Minderheiten in der Schweiz und ganz Europa von grosser Bedeutung. Es korrigiert die besorgniserregende Position des Bundesgerichtes, wonach Betteln zwar ein Grundrecht ist, es aber trotzdem verboten werden kann. Dass die Anwesenheit von Bettelnden stört, darf nicht ausreichen, um ihre Menschenrechte einzuschränken. Zumal sie ohnehin zu den Schwächsten der Gesellschaft gehören. Das Urteil aus Strassburg hat Signalwirkung: Absolute Bettelverbote auf kantonaler und kommunaler Ebene haben künftig einen schweren Stand. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind verbindlich, wodurch die Schweizer Kantone nun verpflichtet sind, undifferenzierte Bettelverbote aufzuheben und sie so anzupassen, dass sie eine Einzelfallprüfung zulassen und mit der Europäischen Menschenrechtskonvention kompatibel sind.

Die GMS engagiert sich im Trägerverein des Schweizer Memorials
Was ist das Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus?
Mit dem Schweizer Memorial wird den unterschiedlichsten Opfern des Nationalsozialismus gedenkt. Es versteht sich als Erinnerungsort, Vermittlungsort und Netzwerk in einem.
Seit der Bundesrat im April 2023 entschieden hat, einen Erinnerungsort mit 2,5 Millionen Franken zu errichten, haben, unter Federführung des Eidgenössische Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Vertreter:innen der Stadt Bern, des Schweizerisches Israelitischen Gemeindebunds (SIG) und des Archivs für Zeitgeschichte (AfZ) der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit Fachpersonen intensiv am Projekt gearbeitet und dessen Strukturen aufgebaut und gefestigt.
Der Erinnerungsort ist heute auf der Casinoterrasse in Bern geplant, das «Vermittlungszentrum Flucht» in Diepoldsau.
Ein Trägerverein für das Schweizer Memorial
Seit 2025 gibt es neben des Netzwerkvereins auch den Trägerverein. Ihm obliegt die langfristige Verantwortung für den Erinnerungsort in Bern – insbesondere für dessen Betrieb, Pflege, Sicherheit und dessen Weiterentwicklung. Später kann der Trägerverein eine entsprechen Rolle für das geplante «Vermittlungszentrum Flucht» im St. Galler Rheintal übernehmen. Der Verein versteht sich als Bindeglied zwischen Zivilgesellschaft, Fachwelt und Behörden. Neben dem SIG und dem AfZ ist auch die GMS Mitgründerin des Trägervereins.
Die GMS engagiert sich für ein inklusives, zukunftsgerichtetes Gedenken und bringt ihre
Perspektive auf Minderheitenrechte und Erinnerungskultur ein.
Webseite des Schweizer Memorials
Medienmitteilung Wettbewerbslancierung