«Racial Profiling» in der Schweiz: Der Fall Wa Baile
06.03.2024

Die begrüssenswerte Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Wa Baile für sog. Racial Profiling bei einer Personenkontrolle stellt einen entscheidenden Moment für die Schweiz dar. Letztere steht nun in der Pflicht, konkrete und wirkungsvolle Massnahmen zu ergreifen, um rassistische Polizeikontrollen in Zukunft effektiv zu verhindern. Sie hat aber auch den Moment, gesamtgesellschaftliche Massnahmen gegen institutionellen und strukturellen Rassismus zu ergreifen.

 

Was ist Racial Profiling?

Der Begriff Racial Profiling bezeichnet alle Formen diskriminierender Kontrollen gegenüber Personengruppen, die von Verwaltungsbeamt:innen als ethnisch oder religiös «anders» wahrgenommen werden. Im Schweizer Kontext sind neben People of Color auch Personen aus der Balkanregion (insbesondere Rom:nja) sowie aus arabischen Ländern und Muslim:as von ungerechtfertigten polizeilichen Kontrollen betroffen. Profiling bezeichnet die gezielte Kategorisierung von Menschen. Problematisch wird es, wenn diese Methode diskriminierend erfolgt. Dies ist der Fall, wenn das Verhalten der kontrollierten Person keinen Anlass für eine Personenkontrolle gibt, die kontrollierte Person aufgrund ihres Aussehens von den Beamt:innen als «fremd» wahrgenommen wird und kein sachlicher Grund für eine Kontrolle vorliegt. In der Schweiz hat die Polizei unter anderem die Aufgabe, ausländerrechtliche Massnahmen durchzusetzen. Dies macht es in der Realität oft schwierig nachzuweisen, ob es sich um ungerechtfertigtes, also rassistisches Profiling handelt oder nicht. In der Praxis kommt Racial Profiling vor allem im Zusammenhang mit Personenkontrollen durch Polizei und Grenzschutz vor.

 

Zum Sachverhalt

Mohamed Wa Baile wurde vor neun Jahren am Hauptbahnhof Zürich einer Personenkontrolle unterzogen. Der zuständige Polizist gab später als Grund an, Herr Wa Baile habe den Blick von ihm abgewandt, woraus sich der Verdacht eines ausländerrechtlichen Vergehens ergeben habe. Herr Wa Baile, der die Kontrolle als rassistisch empfand, weigerte sich, seine Personalien anzugeben. Dafür wurde er mit einer Busse bestraft. Das Bundesgericht bestätigte im Jahr 2018 die Verurteilung von Mohamed Wa Baile durch das Zürcher Obergericht. Herr Wa Baile erhob dagegen Beschwerde beim EGMR in Strassburg. Der strategische Prozess wurde von der Allianz gegen Racial Profiling organisiert und von Amnesty International sowie der Open Society Justice Initiative unterstützt.

 

Zum Urteil

Der EGMR entschied, dass die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in dreifacher Hinsicht verletzt hat. Erstens sei Wa Bailes aufgrund Art und Weise, wie die Personenkontrolle durchgeführt worden sei, wegen seiner Hautfarbe diskriminiert worden. Zudem hätten die Schweizer Instanzen nicht ausreichend geprüft, ob bei der Kontrolle diskriminierende Gründe eine Rolle gespielt haben könnten. Darüber hinaus bemängelte der EGMR, dass Wa Baile kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe.

 

Umsetzung

Die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz begrüsst dieses Urteil! Denn der Fall Wa Baile stellt ein wegweisendes Urteil für den europäischen Menschenrechtsschutz dar. Die Schweiz – und mit ihr alle anderen Mitgliedstaaten der EMRK – müssen wirkungsvolle Vorkehrungen treffen, um Racial Profiling in Zukunft effektiv zu verhindern. Es muss ausserdem möglich sein, im Nachhinein von Personenkontrollen zu prüfen, ob diskriminierende Motive vorlagen. Verantwortlich für die Umsetzung sind Parlamente, Regierungen, Verwaltungen, Justiz und Polizei. In der Schweiz ist die Polizeiarbeit kantonal organisiert und geregelt. Daher liegt es nun vor allem an den Sicherheitsdirektor:innen und ihren Departementen, wirksame Massnahmen gegen diskriminierendes Profiling zu treffen. Dazu gehören insbesondere konkrete Richtlinien zur Vermeidung von «Racial Profiling», die deren rechtliche Durchsetzbarkeit sicherstellen, sowie die Integration des Themas in die polizeiliche Ausbildung und regelmässige Sensibilisierungsmassnahmen im Polizeikorps. Zu denken ist auch an die Einrichtung unabhängiger Meldestellen für Fälle von «Racial Profiling», die Einführung von Quittungen für Personenkontrollen, die Ausstattung von Polizist:innen mit Körperkameras zur Dokumentation von Vorfällen und die Sicherstellung einer unabhängigen Beobachtungsstelle für Vorfälle im Polizei- und Justizbereich.

 

Bedeutung

Die Schweizer Demokratie geniesst national und international einen hohen und besonderen Stellenwert. Umso bitterer ist es, wegen der Verletzung von Grund- und Menschenrechten verurteilt zu werden. «Racial Profiling» untergräbt zahlreiche wichtige Werte des demokratischen Rechtsstaates wie das Diskriminierungsverbot, die Gleichbehandlung, den Zugang zu chancengleicher gesellschaftlicher Teilhabe und das Vertrauen in staatliche Institutionen. Die schweizerische Demokratie muss geschützt werden und ihre Erhaltung erfordert deshalb eine entschiedene und umfassende Aufarbeitung der Themen «Racial Profiling» im Speziellen und diskriminierende Praxen von Polizei und Justiz im Allgemeinen. «Racial Profiling» muss als Teil des institutionellen und strukturellen Rassismus in einer gesamtgesellschaftlichen Dimension bekämpft werden.

Der Standpunkt als PDF

Ein lesenswertes Interview mit dem Ombudsmann der Stadt Zürich Pierre Heusser über die Verurteilung der Schweiz durch den EGMR in einem Fall von Racial Profiling und den Konsequenzen, welche die Behörden aus dem Urteil ziehen können bzw. müssen

11.07.2025

Die GMS engagiert sich im Trägerverein des Schweizer Memorials

Was ist das Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus?

Mit dem Schweizer Memorial wird den unterschiedlichsten Opfern des Nationalsozialismus gedenkt. Es versteht sich als Erinnerungsort, Vermittlungsort und Netzwerk in einem.

Seit der Bundesrat im April 2023 entschieden hat, einen Erinnerungsort mit 2,5 Millionen Franken zu errichten, haben, unter Federführung des Eidgenössische Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Vertreter:innen der Stadt Bern, des Schweizerisches Israelitischen Gemeindebunds (SIG) und des Archivs für Zeitgeschichte (AfZ) der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit Fachpersonen intensiv am Projekt gearbeitet und dessen Strukturen aufgebaut und gefestigt.

Der Erinnerungsort ist heute auf der Casinoterrasse in Bern geplant, das «Vermittlungszentrum Flucht» in Diepoldsau.

Ein Trägerverein für das Schweizer Memorial

Seit 2025 gibt es neben des Netzwerkvereins auch den Trägerverein. Ihm obliegt die langfristige Verantwortung für den Erinnerungsort in Bern – insbesondere für dessen Betrieb, Pflege, Sicherheit und dessen Weiterentwicklung. Später kann der Trägerverein eine entsprechen Rolle für das geplante «Vermittlungszentrum Flucht» im St. Galler Rheintal übernehmen. Der Verein versteht sich als Bindeglied zwischen Zivilgesellschaft, Fachwelt und Behörden. Neben dem SIG und dem AfZ ist auch die GMS Mitgründerin des Trägervereins.

Die GMS engagiert sich für ein inklusives, zukunftsgerichtetes Gedenken und bringt ihre
Perspektive auf Minderheitenrechte und Erinnerungskultur ein.

Webseite des Schweizer Memorials
Medienmitteilung Wettbewerbslancierung

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Die GMS engagiert sich im Trägerverein des Schweizer Memorials
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