1982 – Die Wurzeln

Am 22. November 1982 – fand die Gründungsversammlung der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS) statt. Die Initiative stammte vom bekannten Publizisten Alfred A. Häsler und von Dr. Sigi Feigel, dem damaligen Präsidenten der Israelitischen Cultusgemeinde in Zürich. Sie hatten sich im Vorfeld mit verschiedenen Persönlichkeiten aus Kirchen und Wissenschaft besprochen. Der Staatsrechtler Prof. Werner Kägi gehörte zu ihnen.

1982: In Zürich war eben die Zeit der sogenannten Jugendunruhen abgeklungen. Noch war der West-Ost Gegensatz die Folie, auf die alle internationalen und nationalen Fragen eingezeichnet wurden. „Moskau einfach!“ war der Killersatz, mit dem kritische Stimmen diskreditiert und zum Schweigen gebracht werden sollten. In der Schweiz schätzte man die stabilen Verhältnisse und war daran interessiert, den sozialen Frieden zu erhalten und zu stärken. Denn der Zusammenhalt der Willensnation Schweiz mit ihrem föderalistischen Aufbau, ihren vier Landessprachen und unterschiedlichen Kulturen verlangte immer wieder neue Anstrengungen, damit Verständnis und Solidarität über die regionalen, sprachlichen und sozialen Grenzen hinweg lebendig blieben. Dies hatten die Siebzigerjahre gezeigt, in denen in die unterschiedliche wirtschaftlich-ökonomische Kraft der verschiedenen Regionen deutlich zu Tage getreten war.

1982: Die Gründung der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz hatte alteingesessene Minderheiten im Auge, die je auf Zeiten der Unterdrückung und der vorenthaltenen Gleichberechtigung in der Schweiz zurückblickten.

Da waren die Jenischen, deren Kinder von 1927 bis 1974, also über fast fünfzig Jahre hinweg im Rahmen der von Pro Juventute durchgeführten Aktion „Kinder der Landstrasse“ den „fahrenden“ Eltern weggenommen wurden und in Heimen, Pflegefamilien oder als Verdingkinder zu „sesshaften“, „nützlichen“ Staatsbürgern erzogen werden sollten.

Da waren die Juden, welchen nach vielen Wellen der Verfolgung im Mittelalter und Diffamierung in der Neuzeit erst im 19. Jahrhundert unter dem Druck Frankreichs die volle Staatsbürgerschaft und die entsprechenden bürgerlichen Rechte zuerkannt worden waren. Damit war aber die Ausgrenzung auf Grund antijudaistischer und antisemitischer Klischees und Stimmungen noch keineswegs zu Ende.

Da waren die Rätoromanen, eine Minderheit, gegenüber der in der schweizerischen Bevölkerung seit den Zeiten der Landi und der geistigen Landesverteidigung viel Sympathie zu spüren war. Man schätzte die romanischen Dörfer und deren Bevölkerung in den Ferien, gab sich aber kaum Rechenschaft darüber, wie deren Sprache, Kultur und deren wirtschaftliches Eigenleben durch die ökonomischen Entwicklungen und die Bevölkerungsdurchmischung ernsthaft gefährdet war und ist.

1982: So wurde für die Gründungsversammlung der Zweck der GMS umschrieben:

„Die Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz bezweckt, sprachliche und kulturelle Minderheiten in der Schweiz in ihren Bestrebungen zu unterstützen, ihre historische Eigenart zu erhalten und zu entwickeln, sowie die Zusammenarbeit der Minderheiten untereinander zu fördern. Sie bezweckt ferner, das Verständnis der Bevölkerung für die Wichtigkeit solcher Minderheiten im pluralistischen, freiheitlichen Rechtsstaat zu erhalten und zu fördern und jegliche Diskriminierung zu bekämpfen.“

2002  –  Zwanzig Jahre später

Schon in den Achtzigerjahren traten neben die „alteingesessenen Minderheiten“, die neu in die Schweiz einwandernden: Die Flüchtlinge, die Asylsuchenden, aber auch Gastarbeiter aus anderen Kulturen, mit andern Sprachen, anderen Religionen. Da waren die Tamilen und Tamilinnen aus Sri Lanka, Opfer des Bürgerkriegs. Nach der „Wende“, dem Ende der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetunion und den sozialistischen Satellitenstaaten, kamen die kriegstraumatisierten Menschen aus Bosnien, dann aus dem Kosovo, andere aus Albanien. Viele kamen in die Schweiz, weil vor den Bürgerkriegswirren schon während vielen Jahren Angehörige in der Schweiz lebten. Diese waren als geschätzte Gastarbeiter in unser Land geholt worden. Es waren einfach „Jugoslawen“, ihre ethnische Zugehörigkeit zu den Bosniern, Albanern, Kosovaren, Serben spielte erst von den Greueln des Bürgerkriegs eine Rolle.

Schon von den Achtzigerjahren schwappten Fremdenfeindlichkeit und Rassismus hoch. Aktionen gegen Asylunterkünfte, Proteste gegen „Überfremdung“, der Ruf nach Ausschaffung der Immigranten wiederholten sich. Fragen der Ausländer- und Asylpolitik, Einbürgerungsfragen wurden zu beliebten Themen von Abstimmungs- und Wahlkämpfen. Denn damit und mit den dahinter liegenden Unsicherheiten und der Fremdenfeindlichkeit liessen sich auf populistische Art Abstimmungen und Wahlen gewinnen. Lange vernachlässigte Bemühungen um die sprachliche, mentalitätsmässige und rechtliche Integration konnten nun kaum mehr nachgeholt werden.

Die Aktivitäten der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz konzentrierten sich mehr und mehr auf die Probleme der neuen Minderheiten (auch wenn der Einsatz für die jüdische und die jenische Minderheit nicht zu kurz kam). Interventionen beim Bundesrat, bei der zuständigen Regierungsrätin im Kanton Zürich, bei der Fremdenpolizei und beim Bundesamt für Flüchtlinge waren manchmal erfolgreich, häufig aber nicht. Solche Interventionen, zum Teil mit viel Aufwand und Breitenwirkung, richteten sich gegen die Rückschaffung bosnischer Jugendlicher in Ausbildung, bezogen Stellung für die Aufnahme allein erziehender Mütter mit kriegstraumatisierten Kindern aus Kosovo und für eine Einbürgerungspolitik, die Menschenwürde und Menschenrechte achtet.

Konkrete Beiträge zur Integration von Minderheiten leistete die GMS durch das Initiieren und Unterstützen von Weiterbildungskursen für albanisch sprechende Lehrpersonen in der Schweiz, durch eine Tagung zur Förderung der Integrationsleitbilder und -bemühungen der grösseren Städte in der Schweiz.

Durch gezielte Fachtagungen und Anlässe zu Fragen des Rassismus, des Rechtsextremismus und der Gewaltbereitschaft versuchte die GMS, Erfahrungen und Erkenntnisse, die an anderen Orten in diesen Problemkreisen gewonnen wurden, den Behörden, den Instanzen der Polizei und den Vertretern der Rechtspflege bekannt zu machen.

Die GMS ist, zusammen mit der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, Herausgeberin der jährlich nachgeführten Chronologie „Rassistische Vorfälle in der Schweiz“.

Ab 2002 trat die GMS zwei Mal pro Jahr in zugespitzten Situationen mit Inseraten an die Öffentlichkeit mit dem Anliegen, gegenüber aufschäumenden Wellen von Emotionen zur Besinnung beizutragen. So stellte sich die GMS nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 auf die Zwillingstürme in New York und das Pentagon in Washington mit dem Inserat „Gegen Sippenhaftung“ gegen die Diskriminierung von Muslimen in der Schweiz. Angesichts der Auswirkungen der Selbstmordattentate und der Vergeltungsschläge im Nahen Osten machte die GMS mit dem Inserat „Respekt für unsere palästinensischen und jüdischen Mitbürger“ deutlich, dass die jüdischen Mitbürger nicht verantwortlich sind für die Kriegspolitik Ariel Sharons, ebenso wenig sind die palästinensischen Einwohner unseres Landes verantwortlich für die Selbstmordattentate und die Politik Yassir Arafats. Ein weiteres Inserat trug den Titel „Asylmissbrauch-Initiative: unschweizerisch – unmenschlich – unbrauchbar – unnütz“ und wandte sich gegen die Initiative der SVP. Diese Inserate brachten der GMS stets eine beträchtliche Zahl von positiven oder negativen Rückmeldungen der Leserinnen und Leser.

Für die Zukunft: Stärker werden für Schwache

In den bisherigen Jahren seit der Gründung der GMS sind die Aufgaben im Blick auf die alten und neuen Minderheiten in der Schweiz stets angewachsen. Die finanziellen Mittel der GMS sind beschränkt. Die GMS erhält sie in Form der Jahresbeiträge der Mitglieder, in Form von Spenden von Sympathisanten und eines jährlichen Beitrages der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus.

Sigi Feigel, Dr. iur. Dr. iur. h.c., Rechtsanwalt

Lebensdaten

geboren am 17. Mai 1921 in Zürich
Bürger von Mellingen AG (Schweizer Bürgerrecht 1928)
aufgewachsen in Hergiswil am See (NW)
gestorben am 28. August 2004 in Zürich
1939 Maturität Kantonsschule Luzern
Studium der Jurisprudenz an der Universität Zürich
Unterbrüche durch Rekrutenschule und Aktivdienst
1949 Promotion zum Dr. iur.; Dissertation: Erziehungszweck im schweizerischen Strafvollzug
1949 Heirat mit Evi Heim, keine Kinder
Übernahme der Leitung der Konfektionsfabrik H. & A. Heim infolge Tod des Schwiegervaters
1977 Verkauf der Konfektionsfabrik H. & A. Heim
1984 Anwaltsexamen (als Ältester an der Prüfung, inkl. Examinatoren)
Eigene Anwaltspraxis an der Schweizergase 6, 8001 Zürich

Gründungen und Ämter

Präsident Jüdische Studentenschaft der Schweiz, Gründer deren Stipendienkasse, Ehrenmitglied
1962-1964 Präsident der Augustin Keller Loge (B’nai B’rith)
1972-1987 Präsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ)
1984-1996 Mitglied der Geschäftsleitung des Schweiz. Israelitischen Gemeindebundes (SIG)
1978 Gründer des Fonds gegen Rassismus und Antisemitismus, 1989 Umwandlung in die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA), 1989-2004 Präsident
1982 Gründer der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS) zusammen mit Alfred A. Häsler, 1982-2005 Geschäftsführender Vizepräsident
1980 Gründer der Arbeitsgruppe „Lehrmittel Minderheiten“, 1996 Umwandlung in die Stiftung Erziehung zur Toleranz (SET), 1996-2005 Präsident
1983-2000 Gründer und Präsident des „Vereins für Jugendwohnhilfe“ (heute Jugendwohnnetz)
1992 Errichtung und Verantwortlicher des „Fischhof-Preises“
1999 Mitglied des Presserates
2001/2 Mitbegründer und Co-Präsident des Vereins „Respect Village“ für die EXPO 02

Politische und juristische Initiativen

1991 Co-Präsident „Ja zum Antirassismusgesetz“
1992 Auftragserteilung an Prof. Dr. Marcel Niggli zur Erarbeitung des wissenschaftlichen „Kommentars zur Rassismusstrafnorm Art. 261bis StGB“
1998 Auftragserteilung an Prof. Dr. Marcel Niggli zur Prüfung und Dokumentation der „Gerichtspraxis zu Art. 261bis StGB“
2000 Auftragserteilung an Prof. Dr. Marcel Niggli zur Überarbeitung des wissenschaftlichen „Kommentars zur Antirassismusstrafnorm Art. 261bis StGB“ unter der Berücksichtigung der Praxis 1995-2000
1993 Initiator und Mitbegründer der „Parlamentarischen Gruppe gegen Fremdenhass und Rassismus“ der Eidgenössischen Parlamente
1998 Initiator, Mitbegründer und Co-Vizepräsident des Vereins „Gemeinschaft zur Unterstützung der Stiftung Solidarische Schweiz“

Ehrungen

1987 Ehrenpräsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ)
1994 Prix Courage, verliehen von der „Gruppe christlicher Unternehmer“
1998 Ehrendoktor der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich
2000 Ehrenpräsident „Verein Jugendwohnhilfe“ Zürich

Besondere Einsätze

Abstimmungskampagne für die Erweiterung des Jüdischen Friedhofes „Oberer Friesenberg“ Zürich
Auseinandersetzung um die sog. „Nachrichtenlosen Vermögen“, die Flüchtlingspolitik der Schweiz im 2. Weltkrieg und die Entschädigung der Opfer des Holocaust
Rege Tätigkeit als Referent zu Fragen der Diskriminierung von Minderheiten, zur Förderung von Respekt und Toleranz und zu Menschenrechten und Menschlichkeit in Schulen, privaten und politischen Gremien
Initiant von Lehrerkongressen und Referent
Aktion „Gemeinsam gegen Gewalt“
Unermüdlicher Referent Autor und Interviewpartner von Druckmedien, Radio und Fernsehen
Beratung von Lizentianten bei der Bearbeitung von Themen des Antisemitismus
Diskussionspartner von Schülern und Schulklassen zu Themen wie Rassismus, Nahost, Minderheitenschutz

Publikationen von und über Sigi Feigel

Klara Obermüller, Schweizer auf Bewährung. Das Leben von Sigi Feigel, erzählt von ihm selbst (vergriffen)
Andreas Gisler, „Die Juden sind unser Unglück“. Briefe an Sigi Feigel aus den Jahren 1995-98, Hrsg. Ernst Braunschweig, Antisemitismus – Umgang mit einer Herausforderung. Festschrift zum 75. Geburtstag von Sigi Feigel
Hrsg. GRA und GMS: Chronologie „Rassistische Vorfälle in der Schweiz“. Jährliche Bände seit 1990
Hrsg. GRA, 25 Jahre GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus.
Hrsg. SET, Medienpaket Rassismus, 1998
Hrsg. SET, Gewalt an Schulen. Ursachen, Prävention, Intervention. Beiträge der
2. nationalen Fachtagung, 2002
Hrsg. SET, „Zusammen leben“. „Interkulturelle Konflikte“. Schülerheft und Begleitheft 2002; „Vielsprachige Schweiz“. Schülerheft und Begleitheft 2003; „Wertevielfalt“. Schülerheft und Begleitheft, 2004

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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