Projektbeschrieb

a) Das Projekt hat zwei Wurzeln:

1. Das Wirken Sigi Feigels, des herausragenden Zürchers jüdischer Herkunft im Sinne eines Sprechers und Vorbildes vieler Menschen der jüdischen Minderheit und der nichtjüdischen Mehrheit in Zürich und in der Schweiz.

Sigi Feigel ist am 28. August 2004 in Zürich gestorben. Sein Wirken als Interpret und Brückenbauer in aufbrechenden Fragen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Einwohnern sowie als Fürsprecher für Lebensrecht und Eigenart verschiedener eingesessener und eingewanderter Minderheiten in unserer Bevölkerung ist unvergessen. Seine Bedeutung wurde auf verschiedene Weise gewürdigt, sein Andenken wurde geehrt, u. a. dadurch, dass die Stadt Zürich die neu entstandene Terrasse bei der Gessnerallee „Sigi Feigel-Terrasse“ taufte.

Dieses Gedenken hat uns gefreut. Aber uns bewegt zudem die Frage: Was kann getan werden, dass das, wofür Sigi Feigel lebte und wirkte auf neue, aktuelle Art in die Zukunft weiter lebt und wirkt? Wie kann der selbe offene Geist für Problemlösung, Verständigung und Kulturvermittlung auch ohne Sigi Feigel heute und in Zukunft Wirkung entfalten? Dieses Anliegen führte zum Projekt „Sigi Feigel-Gastprofessur für Jüdische Studien“.

2. Im Rahmen der Universität Zürich fehlt das Fach Judaistik, fehlt ein Lehrstuhl für Judaistik – im Unterschied etwa zum Fach Islamwissenschaft. Wohl wird an der Theologischen Fakultät hebräische Sprache unterrichtet und das hebräische Alte Testament im Sinne der Biblischen Wissenschaft erforscht. Wohl ist am Religionswissenschaftlichen Seminar auch Jüdische Religion im Turnus Lehrgegenstand, aber es fehlt die Möglichkeit, in einer gewissen Kontinuität Jüdische Studien zu treiben.

Die Realisierung des Projekts „Sigi Feigel-Gastprofessur für Jüdische Studien“ würde diesen Mangel wenigstens mit gewisser Reichweite beheben. Dies ist ein Anliegen sowohl einer Gruppe kulturell und interkulturell engagierter Menschen aus dem Umfeld Sigi Feigels, als auch aus dem Kreis der an Fragestellungen Jüdischer Philosophie, Religion, Kultur und Geschichte interessierter Personen Forscher und Studierender.

b) Umrisse des Projekts „Sigi Feigel-Gastdozentur für Jüdische Studien“

Die „Sigi Feigel-Gastdozentur für Jüdische Studien“ ist der Martin Buber-Gastdozentur an der Universität Frankfurt a. M. nachgebildet.

1. Struktur/Kadenz:

Jedes Sommersemester ist ein Professor/eine Professorin von auswärts für ein volles Pensum engagiert, hält Vorlesungen, Seminare, Übungen, leitet Forschungsprojekte mit Studierenden und betreut deren Qualifikationsarbeiten.

Zum Pensum gehört auch eine sogenannte Vorlesung für Hörer aller Fakultäten, welche hier den Charakter einer „Vorlesung für Menschen der ganzen Stadt“ hat und sinnvollerweise abends durchgeführt wird.

2. Themenbereiche:

Grundsätzlich sind alle Themenbereiche möglich, die im Judentum wurzeln und eine Ausstrahlung über das Judentum hinaus haben. Z.B.:

– Jüdische Philosophie und Religionsphilosophie

– Jüdische Religionsgeschichte

– Jüdische Denker in Geschichte und Gegenwart

– Geistige Strömungen im zeitgenössischen Judentum

– Jüdische Geschichte und Zeitgeschichte

– Jüdische Religionswissenschaft

– Geschichte und Zeitgeschichte der europäisch-jüdischen Literatur, Kultur, Kunst

– Soziale Gruppierungen, Fundamentalismus, zeitgenössische jüdisch-zionistische Mythologie

– Geschichte und Kultur des Ostjudentums

– Sephardisches und askenasisches Judentum heute

u. a. m.

3. Dozentinnen/Dozenten:

Der Ordinarius am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich hat eine Liste von in Frage kommenden Dozentinnen und Dozenten zusammengestellt. Diese umfasst Professorinnen und Professoren aus Paris, Haifa, New York, Boston, Potsdam, Jerusalem, Berkeley, Tel Aviv etc.

4. Kooperation mit dem Institut für Jüdische Studien der Universität Basel:

Um Konkurrenz und Überschneidungen mit dem bestehenden Institut für Jüdische Studien der Universität Basel zu vermeiden und um Synergien zu erreichen, wurde eine entsprechende Absichtserklärung der verantwortlichen Professoren in Zürich und Basel erarbeitet, welcher nach der Realisierung der Sigi Feigel-Gastprofessur rechtliche Verbindlichkeit zukommen soll.

5. Initianten:

Initianten des Projektes sind eine Gruppe von Personen, die dem Freundes- und Bekanntenkreis Sigi Feigels zugerechnet werden können und über Jahre mit Sigi Feigel zusammengearbeitet haben wie Prof. Dr. Werner Kramer, Präsident der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS), Dr. Ulrich Bär, Vizepräsident GMS, Dr. Ronnie Bernheim, Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Andererseits gehören Professoren der Universität Zürich zum Kreis der Initianten wie der Religionswissenschafter Prof. Christoph Uehlinger, der Ethiker Prof. Dr. Johannes Fischer, der Philosoph Prof. Dr. Helmut Holzhey.

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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