
Sieben Argumente dafür
Sieben Argumente für das Schaffen von Grabfelder für Muslim:as auf den öffentlichen kommunalen Friedhöfen
1. Das verfassungsrechtliche Argument
Die Aufgaben der Behörden
Vgl. Niccolò Raselli (Bundesrichter) „Schickliche Bestattung für Andersgläubige“ (1996)
Walter Kälin (Prof. für eidgenössisches Staatsrecht und Völkerrecht, Bern), Gutachten „Bestattung von Muslimen auf öffentlichen Friedhöfen im Kanton Zürich“ (2000):
„Besteht daher in einer Gemeinde kein konfessioneller Sonderfriedhof, hat die für die Bestattungen zuständige Behörde von Verfassungs wegen dafür zu sorgen, dass die Bestattung auf dem öffentlichen Friedhof nach den Grundsätzen der Religion, der die verstorbene Person angehörte, erfolgen kann.“ N. Raselli, S. 1109
„Die Zürcher Bestattungsregelung verunmöglicht trotz ihrer scheinbaren Neutralität gewissen religiösen Minderheiten eine Bestattung nach ihrem Ritus und wirkt sich damit herabsetzend und diskriminierend aus. Insoweit stellt die Schaffung von Sondergrabfeldern keine unzulässige Privilegierung dar, sondern muss als Beseitigung einer Schlechterstellung bzw. die Herstellung einer tatsächlichen Gleichberechtigung verstanden werden. Deshalb verletzt die Schaffung von Sonderabteilungen das Gebot der Rechtsgleichheit nicht.“ Nach W. Kälin, S.19.
2. Das gesellschaftspolitische Argument
Die Vielfalt der heute ermöglichten Bestattungsarten
Die weitreichenden Verwaltungsreformen der 1990er Jahre (NPM New Public Management, WOV Wirkungsorientierte Verwaltungsführung) führten zum Selbstverständnis der öffentlichen Verwaltung als eines Dienstleistungsbetriebs mit Kundenorientierung. Es entstanden in allen Verwaltungsbereichen Flexibilisierungen und neue Handlungsspielräume, welche die adäquate Wahrnehmung der unterschiedlichen „Kundenbedürfnisse“ ermöglichten. Im Friedhofwesen: Neben der Bestattung im Reihen- oder Urnengrab die unterschiedlichsten Felder für Gemeinschaftsgräber, unterschiedliche Arten von Baumbestattungen, Abklärungen für die Möglichkeit von Wasserbestattungen, Freiräume für individuelle Grabgestaltung. Bei Kremationen wird es den Angehörigen überlassen, was sie mit Urne und Asche auch ausserhalb des Friedhofes tun wollen.
In diesem Sinne ist nicht einzusehen, weshalb die Bestattung nach muslimischem Ritus als Möglichkeit hier ausgenommen werden sollte.
3. Das pragmatische Argument
Geringe Differenz der muslimischen Bestattung bei uns zur üblichen Erdbestattung der Mehrheitsbevölkerung
Das Gemeinsame: Erdbestattung im Sarg, Grabesruhe von 20 bis 25 Jahren, drei Bestattungen übereinander.
Die Differenz: Ausrichtung der muslimischen Gräber nach Mekka, Einfriedung der Grabfelder durch einen Lebhag (was oft auch bei den Grabfeldern der Mehrheitsgesellschaft vorkommt) bzw. einen niedrigen Holz- oder Steinhag sowie einen Raum für die Waschung des Leichnams.
Es entstehen nach dem Einrichten eines muslimischen Grabfeldes keine höheren Kosten oder Behinderungen als bei der Bestattungsart der Mehrheitsbevölkerung. Übrigens: nach den Angaben aus Winterthur sind die Kosten für das Einrichten eines Grabfeldes für Muslime vergleichbar mit denen des Schaffens eines Grabfeldes für Gemeinschaftsbestattungen.
4. Das integrationspolitische Argument
Integrationshilfe für die muslimische Immigrationsbevölkerung
Der taktvolle Umgang mit den Verstorbenen, schickliche Bestattung, die Möglichkeit des Grabbesuches naher Angehöriger, ist in (fast) jeder Kultur ein hohes Gut. Wenn dazu die Möglichkeit fehlt, wird dies als Verletzung, Frustration und Missachtung elementarer Bedürfnisse erlebt. Auf die Dauer wachsen so Fremdheit und Distanz. Wer dagegen im sensiblen Bereich von Tod und Bestattung Einfühlung, Achtung und Entgegenkommen erlebt, entwickelt das Gefühl von Zugehörigkeit, von Gemeinsamkeit. Darauf sind wir in einer immer pluralistischer werdenden schweizerischen Gesellschaft angewiesen.
5. Das Realitäts-Argument
Problemlosigkeit der realisierten Grabfelder für Muslime
Grabfelder für Muslime existieren heute in Genf, Basel, Bern, Zürich, Lausanne, Luzern, Liestal, Thun und wohl bald in Winterthur. In Liestal und Luzern führten die Projekte zu grossen parteipolitischen Auseinandersetzungen über reale oder lediglich fantasierte Probleme. Auffallend ist, dass nach der umkämpften Entstehungszeit völlige Ruhe eingekehrt ist. Die Verantwortlichen sprechen von einer selbstverständlich gewordenen Normalität.
6. Das geschichtliche Argument
Differenz der Situation Ende des 19. Jahrhunderts und heute
Durch die Bundesverfassung von 1874 wurde das Friedhofwesen „verstaatlicht“, d.h. zur Aufgabe der politischen Gemeinden erklärt. Nach Sonderbundskrieg und Kulturkampf zwischen protestantischen und katholischen Orten war es die vorrangige staatspolitische Aufgabe des jungen Bundesstaates, die konfessionelle Spaltung der Bevölkerungsteile zu überbrücken. Darum wurden die konfessionell-kirchlichen Friedhöfe zu kommunalen Friedhöfen. Die Bestattung ohne Ansehen der Person in chronologischer Reihenfolge in Gräberreihen wurde zur strikten Vorschrift und war eine Errungenschaft, die sich langfristig positiv auswirkte.
Im Zusammenhang damit wurde es bis Ende des 19. Jahrhunderts in Basel und Bern (und St. Gallen) strikt abgelehnt, auf den Friedhöfen der Städte spezielle Grabfelder für Juden einzurichten oder jüdische Sonderfriedhöfe zu gestatten. (In Zürich entstand der jüdische Privatfriedhof schon 1865. Dies war möglich, weil zu diesem Zeitpunkt vor der BV 1874 das Friedhofwesen noch kirchliche Angelegenheit war.)
Die Juden aus Bern und Basel mussten ihre Toten im Elsass auf dem jüdischen Friedhof Hegenheim bestatten. Nach langem Hin und Her wurde den Juden in Bern und Basel das Errichten eines jüdischen Friedhofs erlaubt (Basel: 1902 Beschluss des grossen Rates).
Wegen des damaligen vorrangigen Interesses der Überbrückung der konfessionellen Unterschiede im Rahmen des jungen säkularen Staates war keine andere Lösung möglich als die „Privatisierung der religiösen Verschiedenheit“.
Die entsprechenden Ordnungen wurden Ende des 20. Jahrhunderts revidiert (Bern 1992-2000, Basel 1999, Zürich 2001). Dies geschah überall auf Grund der unterschiedlichsten neuen Wünsche an Bestattung und Grabpflege, denen die verantwortlichen Behörden und Ämter im Rahmen der WOV (Wirkungsorientierte Verwaltungsführung) im Sinne der Berücksichtigung der veränderten Bedürfnisse der „Kunden“ Rechnung tragen wollten.
Darin zeigt sich die grundlegend veränderte Situation zwischen der gesellschaftlichen und politischen Situation des jungen Bundesstaates Ende des 19. Jahrhunderts und heute. Damals gab es nur die Lösung „Privatisierung der religiösen Verschiedenheit“ und damit ein „getrenntes Nebeneinander“, sozusagen im Sinne einer „Parallelgesellschaft“.
Heute, im Zeitalter des gesellschaftlichen Pluralismus und der Individualisierung, werden auch im Friedhof- und Bestattungswesen Lösungen gesucht, die im verfassungsmässigen Rahmen dank Pragmatik und Flexibilisierung unterschiedlichen Varianten Rechnung tragen. Dies keineswegs nur im Blick auf unterschiedliche Religionen, sondern ebenso im Blick auf unterschiedliche persönliche und gesellschaftliche Wünsche.
(Vgl. dazu detailliert: Barbara Richner „Im Tode sind alle gleich“, Die Bestattung nichtchristlicher Menschen in der Schweiz. Chronos Verlag, 2006).
7. Das zeitliche Argument
Der richtige Zeitpunkt zum Schaffen der notwendigen Grabfelder für Muslime
Gelegentlich wird der Standpunkt vertreten, es sei, nach der Annahme der Minarettverbots-Initiative, nicht der richtige Zeitpunkt zum Planen von Grabfeldern für Muslime. Das wecke nur die Emotionen der Mehrheitsbevölkerung.
Das Gegenteil ist richtig. Der Wunsch nach Grabfeldern für Muslime ist ein berechtigtes und nachvollziehbares Anliegen. Der Grossteil, der unter uns lebenden, arbeitenden und Steuern zahlenden Muslime wird nicht mehr in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Der muslimische Teil unserer Bevölkerung (in Schlieren gut 10%, in Dietikon gut 12%) ist heute im Durchschnitt noch jünger als der Durchschnitt der Mehrheitsbevölkerung. Aber die Zahl der älteren und betagten Musliminnen und Muslime steigt jährlich, damit die Zahl der Todesfälle und Bestattungen. Dadurch nimmt die Dringlichkeit des Schaffens von Grabfeldern für Muslime zu.
Es ist eine Illusion, anzunehmen, die Muslime lassen weiterhin eine beträchtliche Anzahl ihrer Verstorbenen in ihr Herkunftsland zurückfliegen und dort bestatten. Muslime der 2. Generation, Schweizer Konvertiten, frühverstorbene Kinder und auch viele Muslime der 1. Generation wollen oder sollen in der Schweiz bestattet werden.
Der dringende Wunsch nach muslimischen Grabfeldern ist gross und wächst. Das Anliegen ist berechtigt. Wenn ihm nicht entsprochen wird, entsteht Druck, der steigt. Es gehört zur politischen Klugheit, sich abzeichnende Probleme zu lösen, solange der Wunsch noch nicht zum Überdruck und Konflikt wird.
Darum ist jetzt der richtige Zeitpunkt zum Planen und Schaffen der notwendigen Grabfelder für Muslime in Städten und grösseren Gemeinden mit einem bedeutenden muslimischen Bevölkerungsanteil.
10. Oktober 2010
GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz
Dr. Giusep Nay Prof. Dr. Werner Kramer
Ehemaliger Präsident GMS Ehrenpräsident GMS
Wichtige Informationen zum Thema

Die GMS engagiert sich im Trägerverein des Schweizer Memorials
Was ist das Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus?
Mit dem Schweizer Memorial wird den unterschiedlichsten Opfern des Nationalsozialismus gedenkt. Es versteht sich als Erinnerungsort, Vermittlungsort und Netzwerk in einem.
Seit der Bundesrat im April 2023 entschieden hat, einen Erinnerungsort mit 2,5 Millionen Franken zu errichten, haben, unter Federführung des Eidgenössische Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Vertreter:innen der Stadt Bern, des Schweizerisches Israelitischen Gemeindebunds (SIG) und des Archivs für Zeitgeschichte (AfZ) der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit Fachpersonen intensiv am Projekt gearbeitet und dessen Strukturen aufgebaut und gefestigt.
Der Erinnerungsort ist heute auf der Casinoterrasse in Bern geplant, das «Vermittlungszentrum Flucht» in Diepoldsau.
Ein Trägerverein für das Schweizer Memorial
Seit 2025 gibt es neben des Netzwerkvereins auch den Trägerverein. Ihm obliegt die langfristige Verantwortung für den Erinnerungsort in Bern – insbesondere für dessen Betrieb, Pflege, Sicherheit und dessen Weiterentwicklung. Später kann der Trägerverein eine entsprechen Rolle für das geplante «Vermittlungszentrum Flucht» im St. Galler Rheintal übernehmen. Der Verein versteht sich als Bindeglied zwischen Zivilgesellschaft, Fachwelt und Behörden. Neben dem SIG und dem AfZ ist auch die GMS Mitgründerin des Trägervereins.
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