Zürich, 29. März 2006

Im Kanton Zürich leben über 70’000 Menschen muslimischen Glaubens. Etwa ein Viertel von ihnen hat die Schweizer Staatsbürgerschaft. Bisher besitzt erst die Stadt Zürich einen muslimischen Friedhof, und Winterthur ist an der Einrichtung eines Grabfeldes auf dem Friedhof Rosenberg. Dennoch ist in vielen Zürcher Gemeinden die vorsichtige Bereitschaft zu spüren, sich mit der Frage der Bestattung nach muslimischen Ritus zu befassen und Lösungen zu suchen. Dies ergab eine Umfrage, welche die Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS) bei allen Zürcher Gemeindeverwaltungen durchführte. Von den 171 Gemeinden des Kantons haben 117 geantwortet. Nur 20 Gemeinden gaben an, der Wunsch nach einer Beerdigung nach muslimischem Ritus sei schon an sie herangetragen worden. In manchen Fällen bestand die Lösung im Erwerb eines Familiengrabs, in anderen blieb den betroffenen Familien nichts anderes übrig, als den Leichnam in die ehemalige Heimat zu überführen, was über 10’000 Franken kostete.

Die Antworten der Gemeinden drücken zuweilen Unsicherheit über die muslimischen Bestattungsregeln aus. Mehrmals wird die „ewige Grabesruhe“ der Muslime als Hindernis angeführt. Im Notfall lässt es aber der islamische Glaube zu, dass der Ort einer Grabstätte nach Ablauf der gesetzlichen Ruhefrist von zwanzig Jahren ein zweites und ein drittes Mal verwendet werden darf. Die Gebeine der früher Bestatteten dürfen dabei beiseite geschoben, aber nicht entfernt werden. Während in islamischen Ländern die Toten nur von einem Leichentuch umhüllt bestattet werden, akzeptieren muslimische Organisationen in der Schweiz die Beerdigung in einem leichten Holzsarg ebenfalls im Sinne eines Notfalls. Auch für die anderen rituellen Regeln – wie die Waschung der Toten und die Ausrichtung der Gräber nach Osten in Richtung Mekka – stellen keine unüberwindlichen Hindernisse dar, da auf vielen Friedhöfen zumindest ein Teil der Gräber bereits nach Osten ausgerichtet sind.

Es wird nun Aufgabe der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) sein, an die Behörden von Gemeinden, in denen viele Muslime leben, zu gelangen und mit ihnen Lösungen in der Friedhoffrage zu finden. Die GMS ist bereit, sie dabei zu unterstützen.

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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